Ludwigshafen Vom aussterbenden Nationalcharakter

Wie viel Einheit braucht eine Nation? Über diese Frage waren sich Thea Dorn (links) und Jagoda Marinic im Marchivum keineswegs e
Wie viel Einheit braucht eine Nation? Über diese Frage waren sich Thea Dorn (links) und Jagoda Marinic im Marchivum keineswegs einig.

„Was heißt deutsch heute?“ Über diese Frage haben zu Zeiten eines wiedererwachten Nationalismus Thea Dorn und Jagoda Marinic diskutiert. Die eine ist unter anderem bekannt durch die Fernsehsendung „Literarisches Quartett“, die andere Kolumnistin der Berliner „tageszeitung“ (taz) und Gründungsdirektorin des Interkulturellen Zentrums in Heidelberg. Die Podiumsdiskussion im Marchivum in Mannheim stand am Anfang einer neuen Staffel der Literaturreihe „Europa Morgen Land“.

Es kennzeichne die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals aussterbe, meinte Friedrich Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das witzige und hintersinnige Bonmot fasste Nietzsches Eindruck in Worte, dass die Deutschen erst noch auf der Suche nach einer Identität seien, dass sie eine Nation im Werden bildeten. Mit der Unsterblichkeit dieser Frage aber hat sich der Philosoph vielleicht getäuscht, denn obwohl das Thema der Podiumsdiskussion „Was heißt deutsch heute?“ lautete, war von dem, was den Deutschen als Deutschen ausmacht oder ausmachen könnte, kaum die Rede. Die Frage nach den Nationalcharakteren, die das 19. Jahrhundert sehr intensiv und etwas weniger intensiv noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, verblasst offenbar und stirbt langsam aus. Ist dies ein Zeichen dafür, dass die Unterschiede zwischen den Nationalitäten immer mehr eingeebnet werden? Allenfalls Thea Dorn deutete auf dem Podium an, was Deutschsein heute vielleicht noch bedeuten könnte, als sie erzählte, wie sie dazu gekommen ist, sich mit der Frage nach der „deutschen Seele“ zu beschäftigen. Aufgrund ihrer Erziehung und ihren Überzeugungen habe sie sich für eine Kosmopolitin gehalten, bis während einer Gastprofessur in den USA ein amerikanischer Kollege lächelnd zu ihr gesagt habe: „Thea, you are so German!“ Wegen der unweigerlich mit der Bemerkung sich einstellenden Nazi-Assoziationen sei sie zunächst erschrocken gewesen. Dann habe sie beruhigt festgestellt, dass der Eindruck wohl dadurch entstanden sei, dass sie bald als Wanderexpertin gegolten und sich erkundigt habe, wo man hier den Müll trenne. Jedenfalls habe sie dieser Anstoß zur Selbsterforschung dazu gebracht, sich gemeinsam mit dem rumäniendeutschen Schriftsteller Richard Wagner in dem Buch „Die deutsche Seele“ auf Spurensuche zu begeben und Männergesangvereinen, „Vater Rhein“ und Zerrissenheit als deutschen Charaktermerkmalen nachzugehen. In dem Buch „Deutsch, nicht dumpf“ mit dem Untertitel „Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ hat Thea Dorn sich dann mit Themen wie kulturelle Identität, Leitkultur, Heimat, Patriotismus, Europa und Weltbürgertum beschäftigt. Es wäre aufschlussreich gewesen, von Jagoda Marinic, Autorin von „Made in Germany“, zu hören, ob sie ein Bild von einem typischen Deutschen hat. Leider versäumte es auch Moderator René Aguigah vom Deutschlandradio, sie danach zu fragen. Vielleicht verweist das Versäumnis aber auf Schwierigkeiten, wenn nicht gar auf die Unmöglichkeit einer Verallgemeinerung und bündigen Definition des Deutschen. Marinic, Tochter einer kroatischen Gastarbeiterfamilie und in Deutschland geboren und aufgewachsen, beklagte stattdessen, dass ihr trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit wiederholt das Deutschsein auf Ämtern abgesprochen worden sei. Offenbar wurde ihr ein Gefühl der Fremdheit und Unzugehörigkeit vermittelt. An dem Begriff „Migrationshintergrund“, aus der statistischen Erfassung in die Umgangssprache gewandert, nahm Marinic zu Recht wegen der bürokratischen Kälte Anstoß. Nur ist bürokratische Herrschaft kein spezifisch deutsches Phänomen und in Ländern wie Frankreich oder Italien sehr viel ausgeprägter. Und Marinic räumte auch ein, dass selbst ein Einwanderungsland wie die USA Restriktionen gegenüber Zugewanderten und Ausländern kennt. Über die Frage, wie viel Homogenität nötig sei und wie integrationswillig manche Einwanderer seien, gerieten sich die beiden dann richtig in die Haare. Jagoda Marinic vertrat eine Offenheit gegenüber dem Fremden und Andersartigen, die selbst vor der Sprache und fremden Einflüssen auf deren Entwicklung nicht haltmacht. Thea Dorn bestand demgegenüber auf einer einzigen Staatsangehörigkeit und wünschte sich in der deutschen Literatur „Erzählungen, die alle berühren“. Als sie Homer als Vorbild anführte, klang das fast wie die Sehnsucht nach einem neuen nationalen Mythos und einem zeitgemäßeren „Nibelungenlied“. Dieser Traum freilich dürfte in einer individualisierten Literaturszene und einer atomisierten Gesellschaft ausgeträumt sein.

x