Interview „Wir sind alle Wilde“: Warum wir mehr „Indigenialität“ brauchen, weiß Philosoph Andreas Weber

Indigene Gemeinschaften wissen, dass der Mensch in eine Welt des Austauschs eingebettet ist. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit – d
Indigene Gemeinschaften wissen, dass der Mensch in eine Welt des Austauschs eingebettet ist. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit – die eigene innere Wildheit – kann man wiederentdecken.

Der Biologe und Philosoph Andreas Weber plädiert in seinem neuen Buch für „Indigenialität“: die Erkenntnis, dass die Wildnis eine Kultur des gegenseitigen Schenkens ist. Was das „bedingungslose Grundwillkommen“ bedeutet, warum wir ein „Hin zum Leben“ brauchen und welche Rolle der Mensch dabei spielt, erklärt er im Gespräch mit Antje Landmann. Der gedankliche Hintergrund zur Serie „Natürlich Kunst!“.

Herr Weber, Sie sagen „Wir sind alle Wilde“. Heißt das, wir sollten öfter barfuß ins Büro gehen?
(lacht) Es heißt nicht, dass wir jetzt alle die Sau rauslassen sollten. Der bewusst provokant formulierte Satz ist ein Spiel mit der Idee von „wild“, wie es die dominierende wissenschaftliche Kultur entwickelt hat. Dort bedeutet es das Unkultivierte, Geistlose, Gefährliche und vielleicht das Ekstatische, das man sich manchmal wünscht. Es ist auch das alte zivilisatorische Bild aus der Neuzeit, als Thomas Hobbes den „Naturzustand“ als Konkurrenzkampf ums Überleben darstellte. Als ob jeder immer nur den anderen fressen wollte. Aber das ist nur eine Projektion.

Was bedeutet „wild sein “ stattdessen?
Alles Urwüchsige, das aus einer lebensspendenden Wirklichkeit hervorkommt, ist wild. Und dieses aus sich selbst heraus entstehende Leben funktioniert partnerschaftlich. Das Wilde ist bereits eine Kultur des gegenseitigen Schenkens. Ein Teilnehmer gibt einer anderen Teilnehmerin das, was sie zum Leben braucht, und sie spendet wiederum anderen, was diese zum Leben brauchen.

Das augenfälligste Beispiel ist der Atem: Wir werden von den Pflanzen beatmet und helfen ihnen im Gegenzug mit unserem Atem ihren Körper aufzubauen. Einerseits aus Sicht der Biologie, aber auch im Verständnis indigener Kulturen leben wir in einem unendlichen Prozess des Austauschs von Geschenken. Unser Atemzug ist uns ja geschenkt und der Sauerstoff (noch) nicht mit einer Gebühr belegt.

Sie schreiben von der „Ökologie der Gabe“ und vom „bedingungslosen Grundwillkommen“. Warum sollen wir denn schenken statt kaufen?
Wenn Sie jetzt so fragen, denkt jeder, der Autor möchte den Kapitalismus abschaffen. Das wäre eigentlich auch gut, wenn es funktionieren würde. Wir haben uns daran gewöhnt zu denken, es sei ein Grundzug des Menschlichen, in Handel zu treten. Das kennt man aus vielen Erzählungen: Kaum war der Mensch entstanden, mangelte es ihm an etwas. Aufgrund der Knappheit tauschte er mit anderen Gruppen – Muscheln gegen Kokosnüsse –, und so ist uns der Kapitalismus in die Wiege gelegt worden. Aber das ist ein falsches Bild.

Der Handel kommt in der Menschheitsgeschichte sehr spät. Erst kommt das Teilen und das Zurückgeben – vor allem an die Quelle, aus der das Leben stammt. Alle animistischen Kulturen bringen rituelle Opfer, weshalb sich abendländische Kolonisatoren damals am Kopf kratzten und fragten: Warum verschwenden sie alles? Warum sind sie nicht effizienter und behalten alles?

Sie vermeiden es, von „Naturvölkern“ zu sprechen.
Ja, weil ich versuche, das Wort „Natur“ wenig zu benutzen. Manchmal spreche ich von traditionellen, indigenen oder animistischen Kulturen und manchmal von Subsistenzgesellschaften. Das sind Gemeinschaften, die alles um sie herum als Subjekte und Personen verstehen und mit ihnen eine Beziehung pflegen, damit sich das Leben immer fortsetzt und unsterblich wird.

Den Wunsch nach mehr Verbundenheit könnte man auch missverstehen als ein „Zurück zur Natur“ – zurück in die Steinzeit oder weit weg in den Urwald. Das meinen Sie aber nicht?
Nein, schon allein deshalb nicht, weil es „die Natur“ nicht gibt. Indigene Gemeinschaften kennen die Trennung zwischen Natur und Kultur nicht, denn sie verstehen die anderen Wesenheiten als Subjekte wie wir. Mücken, Schmetterlinge und Gänseblümchen sind alle Personen mit eigenen Gepflogenheiten, also mit ihren jeweiligen Kulturen. Ich spreche nicht von „Natur“, sondern von einer Gesellschaft der lebenden Personen, zu der alle gehören. Wir brauchen kein „Zurück“ sondern ein „Hin zum Leben“.

Wenn wir von Kulturen umgeben sind, ist dann der Froschteich die Oper des Waldes?
Genau, alle Wesen sind Personen wie wir mit Wissen, Gebräuchen, Vorlieben, Ängsten, Schwächen. Und alle Personen haben ihre Umgangsformen. Zur Kultur des Rotkehlchens gehört es, etwas Rot am Hals zu tragen und auf eine bestimmte Weise zu singen. Alles ist Kultur. Entscheidend ist, dass wir uns mit diesen Personen durch Freundlichkeit und Höflichkeit verständigen und dass wir die Beziehungen gut pflegen, um uns in dieser Gemeinschaft zu verankern.

Wiesen geben uns Heilkräuter, der Wald Holz und Unterschlupf, die Tiere Nahrung. Was können wir Menschen zurückgeben? Wofür gibt es uns?
Eine wichtige Frage. Der von mir geschätzte Aborigine-Anthropologe und Autor des Buchs „Sand Talk“, Tyson Yunkaporta, schreibt, dass eine Kultur, die sich das fragt, sehr kindisch ist und völlig die Orientierung verloren hat. Alle traditionellen Kulturen wissen es. Der Job des Menschen ist es, sich um die Balance zu kümmern. Zum einen durch das Maß halten, damit andere Arten nicht verschwinden. Zum anderen – und das ist ein bisschen magisch – durch die rituelle Konzentration von Kraft. Menschen können die Fruchtbarkeit und Lebendigkeit hervorsingen oder -zeichnen. Wir können uns mit der lebensspendenden Kraft in Verbindung setzen.

Musik, Tanz und Kunst sind also lebensnotwendig?!
Ja, das ist essenziell – zumindest in diesen Gesellschaften, die das aber nicht Kunst nennen. Unsere Kunst hier hat teilweise gar nicht diese Funktion, weil es dabei nur um viel Geld am Kunstmarkt geht. Aber es ist die alte wichtige Rolle der Menschen, darum zu bitten, dass die Lebenskraft nicht versiegt.

Wir könnten die Welt als Fülle begreifen. Warum dominiert trotzdem das Gefühl, wir seien außerhalb der Zivilisation fremd und unversorgt?
Es ist ein Narrativ in populären Medien und im Wissenschaftsjournalismus: der ewig hungrige, zu Gewalt neigende Urmensch, der ein schreckliches Dasein führt. In diesem Bild kann sich der Vulgärdarwinismus austoben: das Überleben des Fitteren. Aber das ist eine historische Fiktion!

Die Menschen, die in einer Gemeinschaft der Gegenseitigkeit lebten und heute noch traditionell leben, leiden keinen Hunger. Wenn man Subsistenzvölker psychologisch befragt, verfügen sie im Schnitt über eine höhere Zufriedenheit als Menschen in – wie wir so sagen – „hochentwickelten“ Kulturen. Sie werden vielleicht nicht so alt, aber ihr Leben ist voller Qualität, voller Präsenz und Glück – zwar auch mit Entbehrungen, aber nicht so schlimm wie die schwärende Sinnlosigkeit und Depression.

Was ist in der europäischen Geschichte denn schiefgelaufen, dass es hier zu dieser Spaltung in Natur und Kultur kam und das gemeinschaftliche Leben aufgegeben wurde?
Das ist für mich auch ein Rätsel. Vielleicht ist es die Anlage des Menschen, sich aufzuschwingen, die in archaischen Kulturen radikal und hart unterdrückt wird. Warum konnte ein aufkommendes Ego ausscheren und so viel Zugkraft entwickeln, dass sich das Prinzip der Monopolisierung und Maximierung in den Händen einiger weniger durchgesetzt hat? Die Menschen wollten das auch nicht; man musste sie unterjochen. Die Entwicklung der Agrargesellschaft war kein stringenter Prozess, sondern es ging über 10.000 Jahre hin und her. Früher wurde gelehrt, dass die landwirtschaftliche Revolution eine Erfolgsgeschichte gewesen sei. Dabei wissen wir archäologisch nachweisbar anhand von Knochenfunden, dass es den Menschen danach schlechter ging, dass sie kleiner waren und schlechtere Zähne hatten.

Müssen wir deshalb respektvoll hinhören, was indigene Gesellschaften an Weisheiten bewahrt haben?
Sie können uns sagen, was wir vergessen haben, aber nicht als Hüter des alten Wissens – das hat so einen instrumentellen Ansatz. Wir sollten denjenigen, die noch Herz genug haben, dem Geschenk des Daseins mit der Großzügigkeit des Schenkens zu antworten, unsere Solidarität beweisen und uns zu ihnen stellen. Sie kämpfen nicht nur um ihr eigenes Überleben sondern auch um das Leben der Wesen, mit denen sie die Existenz teilen. Wir sind ja in einer Zeit der planetarischen Lebenskrise. Das Leben ist dabei sich zurückzuziehen.

Vielleicht wäre der erste Schritt zum Umdenken, in den Wald zu gehen und einen Baum zu umarmen.
Das bringt unglaublich was. Im Berliner Grunewald habe ich einen Baumfreund, den ich begrüße, vor dem ich mich tief verneige, dem ich danke und den ich bitte, dass er mir weiter hilft, das Leben zu unterstützen. Überall gibt es solche Wesen, Bäche oder Berge. Ich bin da gut vernetzt. (lacht)

Ich habe eine Freundin, deren Orchideen schon übernatürlich gut gedeihen, und sie gibt ihnen jeden Morgen einen zärtlichen Kuss. Wesentlich mehr Menschen sprechen mit Zimmerpflanzen als sie das zugeben würden. Wir haben gelebten Animismus bis hin zur Schimpftirade auf den Computer. Und wenn Menschen einmal erfahren haben, dass es eine Gegenseitigkeit gibt, werden sie das nie wieder vergessen. Man kann das üben, so wie man das in der Natur- und Wildnispädagogik kennt. Ich gebe auch Workshops, in denen ich dazu einlade, sich auf die eigene Sensibilität zu besinnen.

Hatten Sie einen Wendepunkt im Leben, ein Erweckungserlebnis?
Ich habe das Gefühl aus meiner Kindheit einfach nie verloren. Wie das so ist in einer Kindheit in den 70er-Jahren hatte ich meine Plastikdinosaurier, aber spürte auch eine Nähe zu den Pflanzen auf der anderen Straßenseite. Es gab eine Brachfläche, auf der später Häuser und Straßen entstanden sind. Vorher war sie noch anarchisch, und da schoben sich diese Sprossen aus der Erde. Ich kann mich erinnern, wie mich das mit einem solchen Glücksgefühl und einer Fassungslosigkeit erfüllt hat: dass sich da etwas manifestierte, wo vorher Leere geherrscht hatte. Ich fand den Giersch so schön, dass ich ihn ausgebuddelt und in ein Aquarium gepflanzt habe, um ihn bei mir zu haben. Diese Nähe habe ich nie aufgegeben, auch nicht, als ich in der Schule und im Biologie-Studium lernte, das alles mechanische Vorgänge seien. Ich habe mir das Gefühl bewahrt, aber es war ein dorniger Weg.

Weil Sie Gegenwind hatten?
Na ja, ich war der einzige Spinner. Studieren Sie mal Philosophie in den 80er-Jahren und seien Sie der Meinung, dass ein anderes Lebewesen ein Subjekt oder eine Person ist – dann hat man ein echtes Problem. Aber zum Glück habe ich Mentoren gefunden, die mich bestärkt haben.

Mit Ihren Thesen sind Sie nicht mehr alleine. Es gibt inzwischen international Forschungen, etwa zur Intelligenz von Pflanzen. Bezeichnen Sie die Gedanken als philosophische Avantgarde, weil Sie immer noch Überzeugungsarbeit leisten müssen?
Es sind ja eigentlich uralte Motive, die aber heute hier nicht mehr gedacht werden. In englischsprachigen Ländern wird das „Eco Philosophy“ genannt, aber in Deutschland gibt es an den Universitäten keinen einzigen Öko-Philosophen, der in einer Zeit der ökologischen Krise darüber nachdenken und sprechen könnte und mit seinem Titel mehr Gewicht hätte.

Was kann der Einzelne tun? Wie kann ich meine innere Wildheit wiederentdecken – hier und jetzt?
Wir brauchen den Mut, uns der Wahrheit zu stellen, dieser Lebendigkeit in der Gegenseitigkeit. Man kann sich die Devise vornehmen: Ab jetzt möchte ich in allen Belangen immer die Entscheidung treffen, die das Leben vergrößert. Wir könnten auch sagen, dass wir mehr lieben möchten. Denn lieben ist ja nichts anderes als das Interesse an der Lebendigkeit des anderen, wie Erich Fromm das so schön geschrieben hat. Wie würde die Liebe entscheiden? Manchmal ist das anders als es unserer Bequemlichkeit entspricht. Helfe ich der Fruchtfliege, die am Fenster sitzt, nach draußen? Gieße ich die Blumen, die Leute offenbar vertrocknen lassen? Unterstütze ich meine Tochter bei einem Plan, der eigentlich nicht meinen Vorstellungen entspricht?

Ein anderes Beispiel: Ich gebe Wespen gern etwas vom Frühstück ab und stelle ein Schüsselchen separat hin.
Das ist im Grunde ein rituelles Opfer. Die Wespen sind glücklich und Sie sind glücklich nach dem Motto „Leben und leben lassen.“ Aus der empirischen Wissenschaft wissen wir, dass auch Wespen Euphorie empfinden und depressiv sein können. Wir könnten jetzt erbauliche Geschichten aneinanderreihen, aber die Maxime, sich immer für das Leben zu entscheiden, kann auch bedeuten, dass ich mein eigenes Leben riskieren muss.

Das ist eine krasse Wendung, die Sie da bringen.
Der Schwur kann uns eben auch in Situationen bringen, die uns wirklich fordern und Zivilcourage abverlangen. Wenn das genügend Leute tun, dann haben wir die Veränderung, die wir brauchen. Wenn Menschen das wirklich fühlen und authentisch sind, wirkt das ansteckend. Lebensfördernde Menschen haben eine Ausstrahlung, die Leute fragen lässt: Kann ich das auch haben? Bitte bringen Sie mir, was diese Frau gegessen hat! (lacht)

Zur Person: Andreas Weber

Er wohnt nur 90 Sekunden von einem wilden Fluss entfernt in einem Bergdorf in Ligurien und den Rest des Jahres in Berlin, in der Nähe des Grunewalds. Der Publizist, Biologe und Philosoph Andreas Weber, geboren 1967 in Hamburg, hat mit Essays und Büchern Aufmerksamkeit erregt, darunter „Alles fühlt“ (2006, 2014). Zuvor hatte Weber Meeresökologie, Biologie und Philosophie studiert und über „Natur als Bedeutung“ (2003) bei Hartmut Bühme und Francisco Varela promoviert. Er arbeitet seit 1996 als freier Autor für Publikationen wie Geo, Die Zeit und die FAZ und lebt mit zwei – inzwischen erwachsenen – Kindern in Berlin und Italien. In zahlreichen Schriften setzt er sich für die Überwindung eines mechanistischen Naturverständnisses ein und beschreibt in einer poetischen und ganzheitlichen Sichtweise den Kosmos als schöpferische Gemeinschaft fühlender und Bedeutung setzender Wesen. Aktuell ist sein Buch „Indigenialität“ (2024) erschienen.

Lesezeichen und Im Netz

Andreas Weber: Indigenialität. Matthes & Seitz Berlin, 2024.

Leseproben und weitere Schriften auf der Seite des Autors: http://www.autor-andreas-weber.de/

Andreas Weber.
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