Neustadt Erzählkunst als Mittel des Überlebens

«NEUSTADT». Bunte herbstliche Vielfalt herrscht auf den Bestsellerlisten der fünf Neustadter Buchhandlungen im Oktober, dem Monat des Buches par excellence. Denn auf der Frankfurter Buchmesse, der weltweit größten Bücherschau mit diesmal zirka 7300 Ausstellern und etwa 286.000 Besuchern, herrschte erneut ein reger Austausch mit den Schriftstellern. Den begehrten Deutschen Buchpreis erhielt Inger-Maria Mahlke für ihren Roman „Archipel“, und der schaffte es auch in Neustadt zweimal unter die Top 3.

Zwei ist diesmal die magische Zahl, denn außerdem sind auch die Romane „Zeitenwende“ von Carmen Korn, „Die Suche“ von Charlotte Link sowie nach einer Lesung bei Osiander „Ich hab’s auch nicht immer leicht mit mir“ der Deidesheimer Komikerin und Kolumnistin Anne Vogd zweimal präsent. Bemerkenswert, alle Titel sind von Frauen geschrieben, und bei zweien handelt es sich um Familiengeschichten, die derzeit höchst beliebt sind. Eine weitere Preisträgerin, Juli Zeh, die gerade in Schifferstadt mit dem Ernst-Johann-Preis ausgezeichnet wurde, ist mit ihrem Roman „Neujahr“ vertreten. Auch der Pfälzer Autor Ludwig Burgdörfer eroberte nach einer Lesung bei Quodlibet einen Listenplatz für sein Buch „Kleines Frühstück für die Seele“. Was allerdings auf den Verzeichnissen fehlt, ist ein Titel aus dem Gastland der Buchmesse, Georgien. Da der Deutsche Buchpreis eine herausragende Würdigung ist, sei hier Mahlkes „Archipel“ kurz beleuchtet (siehe auch DIE RHEINPFALZ vom 9. Oktober), der bei Hofmann und Quodlibet erfolgreich lief. In diesem großen europäischen Familienroman führt die 41-jährige Preisträgerin, die in Lübeck und auf Teneriffa aufwuchs, die Leser durch ein Jahrhundert der Umbrüche und Verwerfungen. Es ist Julios Jahrhundert. Seine Enkelin Rosa, die nach einem abgebrochenen Kunststudium nach Teneriffa zurückkehrt, besucht ihn im Altersheim und erfährt von ihm Eindrückliches über ihre Familie und die politische Vergangenheit, denn Julio war Kurier im Spanischen Bürgerkrieg und Gefangener der Falangisten. Der Roman endet im Geburtsjahr des Großvaters, dazwischen reihen sich im privaten Bereich Geburten und Todesfälle, Hochzeiten und Ehebrüche und auf politischer Ebene der Krieg in der West-Sahara, Francos Diktatur und der Bürgerkrieg. Ausgezeichnet wurde der Roman vor allem für Mahlkes Erzählkunst und wegen der präzisen Alltagsschilderungen. Da wir die anderen mehrfach vertretenen Titel bereits vorgestellt haben, sei an dieser Stelle auch noch der Roman „Königskinder“ von Alex Capus beleuchtet, der in der Neustadter Bücherstube erfolgreich lief. Darin wertet der 1961 in der Normandie geborene und in Olten in der Schweiz lebende Schriftsteller („Léon und Louise“) die Kunst des Erzählens als eine Möglichkeit des Überlebens. Als Max und Tina in ihrem Auto auf einem Alpenpass eingeschneit sind und ohne Aussicht auf Hilfe ausharren müssen, erzählt Max seiner Frau, um sie aufzuheitern, eine besondere Geschichte. 1779 lebte genau hier in den Schweizer Bergen ein eigenbrötlerischer Hirte, der sich in die reiche Bauerntochter Marie verliebte. Da sich die Dörfler über diese Verbindung erregten, flüchtete Jakob über die Grenze nach Frankreich, kam dort zum Militär und landete am Hof König Ludwigs XVI., wo ihm erlaubt wurde, wieder Tiere zu hüten und seine Jugendliebe zu sich zu holen. Von den blutigen Unruhen der Revolution blieb das Paar nahezu unberührt – dem Schicksal ergeben, ähnlich wie die beiden eingeschneiten Reisenden, denen dank Maxens Erzählkunst die Zuversicht nicht abhanden kommt.

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