Neustadt Seherin, Philosophin, Ärztin

NEUSTADT-MUSSBACH. Das Interesse an der vor zwei Jahren heilig gesprochenen Äbtissin Hildegard von Bingen ist ungebrochen. Hatte der Historiker Claus-Peter Haverkamp sie kürzlich in einem Vortrag in der Stadtbücherei Neustadt vor allem als Komponistin gewürdigt, so zeichnet Karl Scherer in seiner Reihe „Lebendige Pfalz in Geschichte(n)“ morgen im Herrenhof ein umfassendes Bild dieser 1098 geborenen „Prophetissa Germaniae“ und ihrer visionären Werke. Bereits als Kind hatte diese berühmteste und einflussreichste Nonne des 12. Jahrhunderts „innere Gesichte“. 1112 trat sie in das Benediktinerkloster Disibodenberg ein und lebte, wie sie es nannte, „im Schatten des ewigen Lichtes“. Als nach einer weiteren Vision dieses „lebendige Licht“, nämlich Gott, ihr den Auftrag erteilte, ihre Gesichte niederzuschreiben, geriet sie, wie Scherer nachweist, in seelische Not und bat Bernhard von Clairvaux um Rat. Dieser ermutigte sie zu der Niederschrift ihres Werkes „Scivias Domini“ (Wisse die Wege des Herrn), das sie im von ihr etwa 1150 gegründeten Kloster Rupertsberg bei Bingen vollendete. Es folgten ihre natur- und heilkundlichen Lehrschriften „Physica“ und „Causae et Curae“. Darin schöpft sie aus der benediktinischen Tradition der Heilkunde, bezieht jedoch auch Lehren griechischer und arabischer Ärzte mit ein. In ihrem Alterswerk „Liber Divinorum Operum“ (Buch der göttlichen Werke) legte sie eine kosmologisch unterbaute Heilsgeschichte vor. Scherer hebt ihren zirka 280 Schriftstücke umfassenden Briefwechsel hervor, in dem sie unter anderem scharfe Kritik an kirchlichen und weltlichen Zuständen übt. Im Streit zwischen Kaiser Barbarossa und dem Reich auf der einen und Papst Alexander III. und den lombardischen Städten auf der anderen Seite ließ Hildegard sich nicht vereinnahmen. Während des von Barbarossa heraufbeschworenen Schismas von 1159 bis 1177 zeigte sie allerdings ihre Sympathie für den Papst, indem sie die Existenz der drei kaiserlichen Gegenpäpste schlicht negierte. Und als Barbarossa 1165 das Augustiner-Chorherrenstift Eibingen bei Rüdesheim verwüsten ließ, wagte Hildegard es, an dieser Stelle ein Tochterkloster zu errichten. Sie starb 1179 im Kloster Rupertsberg.

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