Neustadt Zu gut für diese Welt

Was Shen Te nicht übers Herz bringt, ist für ihr skrupelloses Alter ego Shui Ta (Nele Sommer, Mitte) kein Problem: die bunte Sch
Was Shen Te nicht übers Herz bringt, ist für ihr skrupelloses Alter ego Shui Ta (Nele Sommer, Mitte) kein Problem: die bunte Schar der Schmarotzer zum Abzug zu zwingen.

«Neustadt». Als äußerst frisches Stück, bei dem die Botschaft nicht verbogen, aber mit einem guten Schuss Ironie und Leichtigkeit angereichert wurde, präsentierte das Pfalztheater Kaiserslautern am Dienstag seine Version von Bertolt Brechts Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“ im bis in die letzten Reihen und die Ränge gut besetzten Saalbau. Das Ensemble überzeugte durch Spielfreude, Regie, Musik, Bühnenbild und Kostüme durch etliche wirklich gute Einfälle.

Dass Brechts 1943 in Zürich uraufgeführtes Stück hier mit Nachdruck ins 21. Jahrhundert geholt wird, zeigt schon das erste Bild: „Don’t be evil“ steht als Maxime in Leuchtschrift über der Bühne, die Seitenwände deuten in grellen Farben und Comic-Ästhetik eine Explosion an, die man auf der zentralen Leinwand dann auch hautnah und mit großem Krawumm als Videoprojektion serviert bekommt. Aus Gegenlicht und dichtem Kunst-Nebel treten einem danach aber nicht, wie man erwarten könnte, die Überirdischen entgegen, sondern Rainer Furch als Wasserverkäufer Wang mit einer ziemlich kreativen Tragevorrichtung auf dem Rücken, der die Zuhörerschaft gleichsam bei der Hand nimmt und die Handlung auf die Spur setzt. Man befindet sich also in Sezuan, und die Götter werden in der Stadt erwartet, ist zu erfahren. Oder zumindest eine Abordnung. Denn der Himmel ist beunruhigt wegen der vielen Klagen, die zu ihm aufsteigen. Und will nun prüfen, ob man etwas ändern muss. Die Lust dazu ist aber nicht sehr groß, wie Hannelore Bähr, Henning Kohne und Harry Schäfer als Götter-Trias gleich im Anschluss erkennen lassen. Sie sitzen als Normalos im Publikum und sorgen sich vor allem um eines: ihr Nachtquartier. Das finden sie nach langem Hin und Her schließlich erst bei der Prostituierten Shen Te (Nele Sommer), die schon die ganze Zeit im Hintergrund bewegungslos wie eine Mater Dolorosa mit Paillettenkostüm, Netzstrümpfen und Engelsflügeln auf Freier gewartet hat. Wie ein Engel will sie erklärtermaßen auch sein und handeln, und das ist ihr großes Problem, wie der weitere Verlauf zeigen wird. Die Inszenierung des Gastregisseurs Jan Langenheim rollt die bekannte Handlung im Großen und Ganzen sehr textnah ab, setzt dabei aber erkennbar darauf, auch die komischen Elemente gebührend herauszuarbeiten. Sie steht damit in der Tradition der ersten bundesrepublikanischen Aufführungen nach dem Krieg, als man sich gegen die streng antikapitalistische und antiwestliche Deutung aus Ost-Berlin zu positionieren müssen glaubte. Trotzdem bleibt die Kernbotschaft präsent: dass es unter den hier vorgeführten Verhältnissen unmöglich ist, „gut zu sein und doch zu leben“. Oder marxistisch gesprochen: dass man im vorherrschenden kapitalistischen System selbstentfremdet böse sein muss, um nicht vor die Hunde zu gehen. Dies wird dem Publikum von den Kaiserslauterern aber nicht mit dem Holzhammer eingebleut, sondern wie im Stil einer absurden Revue mit vielen schrillen Begleitstimmen. Shen Te investiert also das Geld, das sie als Dank für ihre Güte von den Göttern erhalten hat, in einen kleinen Tabakladen, wird jedoch schon bei diesem Kauf gnadenlos übers Ohr gehauen, wobei Nadine Kiesewalter als Vorbesitzerin aber so viel Miesepetrigkeit auf die Bühne bringt, dass man unwillkürlich schmunzeln muss. Auch Shen Tes geradezu exemplarische Hilfsbereitschaft wird natürlich ausgenutzt, wie es nur geht. Die angeblich notleidende Familie, die sich mit Kind und Kegel bei ihr einquartiert, ist dabei nicht nur in der Kostümierung so burlesk, dass man fast an Pirandello oder Fo denken muss. Besonders Harry Schäfer als übergriffiger Tattergreis und Alicia Fath als vollschlanke Schwägerin haben die Lacher auf ihrer Seite. Auch der Seitenhieb auf die moderne Protestkultur mit Free-Shen-Te-Plakaten gegen Ende ist ein origineller Einfall. Bei allem Witz werden die ökonomischen und gesellschaftlichen Spielregeln aber doch so konsequent durchexerziert, wie man es von Brecht erwartet: Wer seine Schulden nicht bezahlt, wird gepfändet. Wer keinen guten Leumund nachweisen kann, erhält keine Mietvertrag. Wer nicht verhungern will, muss arbeiten. Vor allem aber: Wer zu gutmütig ist, wird über den Tisch gezogen, und Emotionen schaden dem Geschäft. Auch Shen Tes Liebe zu dem verkrachten Flieger Yang Sun (Daniel Mutlu) muss daher scheitern. Der Umgang der Menschen untereinander reduziert sich auf Handel und Geschäft, und dafür braucht die naive Protagonistin Hilfe: Vor dem Ruin kann sie sich nur durch ihren erfundenen Vetter Shui Ta retten. Nele Sommer bringt dieses schizoide Abspaltung aus ökonomischer Notwehr in der Doppelrolle Shen Te/ Shui Ta sehr überzeugend auf die Bretter. Nur durch einen Schnurrbart-Strich und eine gewendete Jacke verwandelt sie sich von der sanften Ja-Sagerin in einen lauernden Mister Hyde und beglaubigt diesen Zwang zur Existenzspaltung mit einer psychologischen Ausdeutung der Rolle, die im Stück gar nicht angelegt ist, denn da geht es ja „nur“ um gesellschaftliche Typen. Der Rest des zehnköpfigen Ensembles, zumeist mit mehreren Rollen, schließt sich in der Qualität des Spiels nahtlos an. Für einen eigenständigen musikalischen Akzent sorgt der Gitarrist Joachim Schönecker, der die Musik, die Paul Dessau für den „Guten Menschen“ geschrieben hat, beherzt ins Hier und Jetzt hievt, dafür aber auch während der ganzen Aufführung an seinem Steuerpult auf der Bühne verharren muss. Eine enorme Sitzleistung bei drei Stunden Spielzeit! Das opulente Bühnenbild mit vielen ironischen Chinoiserien, die bizarren Kostüme sowie die immer wieder eingesetzten Videoprojektionen sind weitere Zutaten, die das als trocken und didaktisch verschrieene Drama aufpeppen. Die wohltuende Schnoddrigkeit, die die ganze Inszenierung auszeichnet, prägt dann auch den Schluss: „Keiner ’ne Idee?“, rufen die Darsteller ins Publikum und geben das große Dilemma, das das Stück so kunstvoll aufgebaut hat, mit Witzeleien über den nicht vorhandenen Vorhang ans Publikum zurück. Dass Brechts Parabel in Zeiten von Globalisierung und weltweitem Turbokapitalismus immer noch sehr aktuell ist, hat der Abend eher en passant vermittelt. Doch dass mit Brecht ein Autor (wieder) zu entdecken ist, der die Wirklichkeit eben nicht für gottgegeben, sondern veränderbar hielt und den Status quo listig hinterfragte, dürfte angekommen sein.

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