Kolumne: Ich sag’s mal so Über den Zu-spät-Teufel und die verzweifelte Rettung des Goldfischs

zu spät

Wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Wenn etwas zu erledigen ist, dann bitte sofort. Ein Termin jagt den anderen, Fristen sind zu erfüllen. Unser Kolumnistin Melanie Müller von Klingspor macht sich so ihre Gedanken über das Zu-spät-Sein.

Bevor es zu spät ist! Immer ist irgendetwas dringend zu unternehmen, bevor es zu spät ist. Wir leben in einer Zeit, in der wir permanent von Endzeit-Szenarien umgeben sind. Dauernd flattern mir Nachrichten auf meine mobilen Endgeräte, die mir sagen, was jetzt alles zu tun ist, bevor es zu spät ist. Unser Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat ein Buch geschrieben, das genau diesen Titel trägt: „Bevor es zu spät ist: Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält.“ 2022 hat er das Buch geschrieben. „Wir leben in einer Zeit nie da gewesener Herausforderungen. Zum ersten Mal seit Beginn der Zivilisation ist sogar das Überleben der Menschen auf dem Planeten Erde gefährdet“, sagt der Klappentext. Es wird also nichts weniger als das Ende der Menschheit behandelt.

Das Buch war ein Spiegel-Bestseller. Offensichtlich wollen viele Leute wissen, was zu tun ist, bevor es zu spät ist. Das ist lobenswert. Und Herr Lauterbach ist ein kluger Kopf, dem ich prinzipiell gerne glaube. Trotzdem bin ich erleichtert, dass ich jetzt, 2024, zwei Jahre nach dem Buch, immer noch am Leben bin. Aber vielleicht hat er trotzdem Recht? Es gibt Menschen, die bei bestimmten Themen sagen: „Fünf vor zwölf ist schon lange vorbei! Wir haben mindestens zehn nach zwölf.“ Was jetzt also unbedingt zu retten ist, bevor es zu spät ist: das Klima, das Grundwasser, aussterbende Arten, die Ukraine, die Demokratie, die Ampelkoalition, das Gesundheitswesen, die Bildung. Aber auch der Feldhamster, der Monarch-Falter, der Eisbär und der Kabeljau.

Jetzt aber schnell, bevor es zu spät ist

Ich habe vor kurzem eine Studentin – sie ist Anfang 20 – kennengelernt. Eine kluge junge Frau mit Plänen und Wünschen für ihr Leben. Was soll sie denn machen, wenn es bei allem schon zehn nach zwölf ist? „I am here for a good time, not for a long time“, sagt sie. Sie ist hier um eine gute Zeit, nicht um eine lange Zeit zu haben. Das Gegenprogramm zum Weltuntergang ist also, die Gegenwart zu gewinnen. Aber das ist auch nicht neu. Früher hat man ja auch schon „Carpe diem – nutze den Tag“ vor sich hin gephrast.

Ich kann gegen die großen Krisen der Menschheit nicht viel ausrichten. Ich kann wenig fliegen. Ich kann auf einen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff verzichten. Ich kann im Laden unverpackte Bio-Äpfel kaufen. Zur Vermeidung persönlicher Endzeit-Szenarien kann ich auch was machen – nicht rauchen, zum Beispiel. Aber ich weiß, dass ich trotzdem sterben muss. Ich kann mir mit der teuren Q10-Nivea-Creme für die reife Haut das Gesicht eincremen, um die Faltenbildung zu mindern, damit ich nicht so alt aussehe. Bevor es zu spät ist und ich dann doch so alt aussehe, wie ich bin.

Persönlich soll ich mich rechtzeitig um eine gute Altersvorsorge kümmern, bevor es zu spät ist. Ich soll auch die Sonderaktion des Autohändlers vor Ort nicht versäumen, um das neue E-Auto zu günstigen Konditionen zu bekommen. Ich muss eine Klage gegen eine Behörde fristgerecht einreichen, bevor es zu spät ist. Ich muss pünktlich auf dem Amt sein, wenn ich dort etwas zu erledigen habe, sonst stehe ich vor verschlossener Tür. Woanders muss ich vor 12 Uhr anrufen, sonst ist es zu spät und niemand beantwortet meinen Anruf.

Der kleine, hässliche Zu-spät-Teufel

Gott sei Dank habe ich heute die Möglichkeit, alle Filme und Sendungen anzuschauen, wann ich will, weil es Mediatheken gibt. Früher musste ich am Sonntagabend pünktlich um 20.15 Uhr auf dem Sofa sitzen, um den Tatort zu sehen. Wenigstens diesem „zu spät“ haben wir ein Schnippchen geschlagen. In der echten Welt, also nicht im Internet, gibt es leider immer noch Fristen, Termine, Öffnungszeiten, Verabredungen und Verpflichtungen, die man einhalten und denen man entsprechen muss. Das Leben um mich herum besteht aus Daten, Uhrzeiten, Erwartungen und Aufgaben. Und immer sitzt auf der Schulter so ein hässlicher, kleiner, unsichtbarer Teufel, der flüstert „…zu spät, zu spät, zu spät, zu spät…“

Gibt man „bevor es zu spät ist“ in die Suchmaschine ein, schlägt der Übersetzer von Reverso Beispiel-Sätze für englisch-deutsche Übersetzungen vor, in denen dieser miese kleine Satz enthalten ist, unter anderem: „I’ll get the goldfish out before it’s too late – Ich hole den Goldfisch raus, bevor es zu spät ist.“ Zu spät wofür auch immer. Wo war er drin, dass er da raus muss? Und wo kommt er hin? Was passiert mit ihm? Ich sorge mich um den Goldfisch. Es wird doch eine Möglichkeit geben, dem Goldfisch zu helfen. Wenn schon nicht die Welt, dann doch wenigsten den Goldfisch retten. Das können wir doch. Das kriegen wir hin – bevor es zu spät ist!

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