Panorama „Sie verteidigen sich gegen Eindringlinge“

«London.» John Allen Chau war wohl besessen davon, den Menschen auf North Sentinel im Indischen Ozean die Bibel zu bringen. „Herr, ist diese Insel die letzte Hochburg des Satans, wo niemand deinen Namen gehört hat oder wenigstens die Chance hatte, ihn zu hören?“, zitierte die „Washington Post“ aus den letzten Aufzeichnungen, die die Familie des 27-Jährigen der Zeitung zur Verfügung stellte. Der US-Bürger bezahlte seinen missionarischen Eifer Mitte November mit dem Leben, getötet vom abgeschotteten Volk der Sentinelesen. Ein Gespräch mit der Wissenschaftlerin Sophie Grig von der Organisation Survival International, die sich für den Schutz indigener Völker einsetzt.

Frau Grig, war John Allen Chau naiv?

Er war naiv, wenn er dachte, dass er auf North Sentinel mit dem Kanu an Land gehen könnte und die Sentinelesen ihn akzeptieren und willkommen heißen würden. Er muss aber gewusst haben, dass es illegal ist und dass die Sentinelesen auf jeden Pfeile schießen, der die Insel betritt. Er muss auch gewusst haben, dass er sie gefährdet hat, sich mit Krankheiten anzustecken, gegen die sie nicht immun sind. Es scheint, dass er diese Dinge wusste und sich entschied, trotzdem zu gehen. Was wissen wir über seine Gründe, dorthin zu gehen? Er wollte sie anscheinend zum Christentum bekehren. Was ist dann passiert? Er ist am ersten Tag wohl mit seinem Kanu an der Insel gelandet und hat versucht, ihnen seinen Namen zu sagen und Jesus zu erwähnen. Die Indianer haben ihn mit Pfeilen beschossen, Augenzeugenberichten zufolge aber nur seine Bibel getroffen. Am nächsten Tag ist er zurückgekehrt – und sie töteten ihn. Was denken Sie: Wie wollte Chau mit ihnen kommunizieren? Ich weiß es nicht. Er muss gewusst haben, dass sie kein Englisch sprechen, und niemand kennt ihre Sprache. Man kann sich nur vorstellen, dass er dachte, sein Glaube würde bei der Kommunikation helfen. Warum reagierten die Sentinelesen so aggressiv? Ich denke, es ist mehr Selbstverteidigung als Aggression gewesen. Sie hatten keine Ahnung, warum er gekommen war. Es ist verständlich, dass sie sich und ihr Land gegen Eindringlinge verteidigen. Sie haben ihn vielleicht sogar gewarnt, obwohl sie ihn leicht hätten sofort töten können. Er hat die Warnung aber nicht beachtet und ist zurückgekommen. Ist es möglich, dass Chau der erste Fremde war, den die Ureinwohner je gesehen haben? Sie wissen wohl nicht, dass sie auf einer Insel leben, die zu Indien gehört. Deshalb sind auch Inder für sie Ausländer. Ihre Vorfahren haben vielleicht britische Kolonisten gesehen. Und es gibt Fischer aus Myanmar, die in der Nähe ihre Netze auswerfen. Warum ist es verboten, North Sentinel zu betreten? Der Stamm könnte von Krankheiten ausgelöscht werden, gegen die er nicht geschützt ist. Und es ist ihr Land; sie machen deutlich, dass niemand sonst dorthin gehen sollte. Also ist es richtig, dass es geschützt ist. Weiß man, wie die Sentinelesen leben? Sie stammen von den ersten Gruppen des Homo sapiens ab, die von Afrika in andere Erdteile wanderten. Auf North Sentinel leben sie demnach bereits seit 60.000 Jahren. Da Fremden der Zugang verboten ist, kann die Anzahl der Bewohner nur geschätzt werden. Es sollen rund 150 Sentinelesen sein, die vom Jagen und Sammeln leben. Auf den wenigen Fotos, die aus der Luft von ihnen gemacht wurden, ist zu erkennen, dass sie dunkle Haut haben und keine Kleidung tragen. Allerdings fertigen sie offenbar aus Blättern und anderen Naturmaterialien Schmuck wie Ketten oder Stirnbänder an. Chau schrieb vor seinem Tod nieder, dass die Bewohner etwa 1,65 Meter groß und ihre Gesichter mit gelbem Puder bedeckt seien. Wird der Stamm auch weiterhin so leben können, wie er das möchte? Solange ihre Insel vor Eindringlingen geschützt ist und die indische Regierung an ihrer Politik festhält, keinen Kontakt aufzunehmen, können sie weiterleben, wie sie wollen. Es ist wichtig, dass Indien den Ozean um North Sentinel überwacht, um solche Vorkommnisse wie den Tod des Amerikaners zu verhindern und Wilderer davon abzuhalten, in den Gewässern der Sentinelesen zu fischen. Wie versucht Ihre Organisation, die Menschen zu schützen? Survival arbeitet seit über 20 Jahren mit Aktivisten vor Ort zusammen. Das hat dazu geführt, dass Indien seine Politik geändert hat und nicht mehr versucht, Kontakt mit den Sentinelesen aufzunehmen. Indien versucht auch nicht mehr, die anderen Stämme auf der Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren zu kontaktieren. Die Regierung hat erkannt, dass diese selbst bestimmen sollten, wie sie ihr Leben führen. | Interview: Antonia Kurz

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