Pfalzgeschichte(n) Warum das älteste Saumagen-Rezept in Paris liegt
Saumagen – das Nationalgericht der Pfälzer. Kein anderes Gericht wird außerhalb der Pfalz so mit diesem Landstrich verbunden. Schuld daran ist vermutlich auch ein Mann aus Oggersheim: Bundeskanzler Helmut Kohl ließ bei etlichen Staatsbesuchen seine Gäste das Gericht probieren. Dafür legte er extra stets einen Stopp im Deidesheimer Hof ein, wo Sternekoch Manfred Schwarz den Saumagen zubereitete. Michail Gorbatschow, Jacques Chirac, Queen Elizabeth II. – alle haben sie ihn probiert, während die Weltöffentlichkeit zuschaute.
Es passte wie die Faust aufs Auge zu Kohl, dieses derbe, urige pfälzische Gericht. Er signalisierte damit auch eine gewisse Volksnähe, was Politiker aus Washington und Westminster auch erst einmal schockieren konnte. Von François Mitterrand wird überliefert, dass ihm der Saumagen so überhaupt nicht gemundet haben soll. Anekdotisch wird berichtet, Hannelore Kohl habe zu ihrem Mann gesagt, er solle mit dem französischen Regierungschef reden, denn das sei nicht gut für die Presse, wenn ihm der Saumagen nicht schmecke. Kohl habe dann zu Mitterrand gesagt, er müssee das Saarland zurücknehmen, wenn er seinen Teller nicht aufesse – und angeblich habe das funktioniert.
Mozart beschwert sich
Dass in der Pfalz der Fleischkonsum schon immer etwas höher gewesen sei, davon sei auszugehen, sagt Hiram Kümper, Professor für spätmittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Die Böden seien hier für Getreideanbau weniger geeignet – klar sei es möglich, aber unter erschwerten Bedingungen. Viehzucht sei da einfacher gewesen, weswegen die Pfalz zu den Landstrichen gehöre, in denen schon immer viel Fleisch gegessen worden sei.
Auch für das 18. Jahrhundert kann Kümper einen hohen Fleischkonsum belegen – zumindest gebe es eine wunderbare Anekdote dazu, sagt er: Als Leopold Mozart mit seinem Sohn Wolfgang Amadeus auf Tour war, um ihn am Hof zu etablieren, hat er immer wieder Briefe in die Heimat Salzburg geschrieben. In einem der Briefe beschwerte er sich über die damals noch stark calvinistisch geprägte Kurpfalz. Unter anderem gebe es kein Weihwasser in der Kirche. Als es ums Essen geht, fällt dann der Satz: „Alles frisst hier Fleisch!“ Kümper: „Das ist ihm total zuwider, er bekommt hier seine schönen Mehlspeisen nicht, denn die Pfälzer fressen und fressen nur Fleisch, sagt Papa Mozart 1786.“
Kallstadt und der Saumagen
Auch heute ist das noch so – zumindest wenn man die Speisekarten der regionalen Küchen durchblättert: Leberknödel, Bratwurst, Winzersteak. Der König aller Pfälzer Fleischgerichte bleibt aber der Saumagen. Fragt man die Pfälzer, wo das Gericht herkommt – wir haben eine stichprobenartige Umfrage auf dem Mundart-Festival „Babbel doch!“ gestartet –, fällt neben Deidesheim und Helmut Kohl auch oft der Ortsname Kallstadt.
Schon der Pfälzer Liedermacher Kurt Dehn (1920–2000) hat im Schunkel-Dreivierteltakt gesungen: „Saumaache esse und trinke als Woi: Des kann doch nur in Kallstadt soi!“ In der Tat gibt es dort eine Weinlage namens Saumagen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert so heißt. Zur Namensherkunft gibt es mehrere Theorien: Eine besagt, dass das der Spitzname des Besitzers gewesen sei, eine andere führt es auf die Form der Weinlage in Vogelperspektive zurück, die an einen Saumagen erinnert. Wieder andere sagen, die Kopfbedeckung der Winzerinnen habe der Lage den Namen gegeben, weil sie an einen Saumagen erinnere. Fest steht – auch wenn es die Kallstadter nicht gerne hören werden: Mit der Erfindung des Gerichts hat das Dorf nichts zu tun.
Sehr wohl aber mit der Wiederentdeckung. Lange Zeit fristete der Saumagen nämlich ein Schattendasein. Liselotte von der Pfalz, die vom französischen Hof aus Briefe nach Hause schrieb, erinnerte sich an Sauerkraut, Specksalat und Mettwürste, nicht aber an Saumagen. Auch in vielen Rezeptbüchern aus dem 19. Jahrhundert findet man zwar ab und zu einen Saumagen, aber keiner würde es als „Nationalgericht“ bezeichnen. Erst als die Kallstadterin Luise Wilhelmine Henninger (1871–1951) ihr Saumagenrezept perfektionierte und es in ihrem Weinhaus zubereitete, schwappte die Saumagenwelle quer durch die Pfalz.
Fehlende Kartoffeln
Fleisch, Kartoffeln, Karotten, ein paar Gewürze – viele Variationen gibt es beim Saumagen heutzutage eigentlich nicht. Beim Ur-Saumagen sah das allerdings noch anders aus. Das älteste erhaltene Rezept eines Pfälzer Saumagens stammt nämlich aus einer Zeit, in der Christoph Kolumbus Amerika noch nicht entdeckt hatte.
Geschrieben hat es Johannes Herbordi, ein Kleriker, der aus Bockenheim stammt, in seinem „Registrum Coquine“. Er ist vor allem unter dem Namen Johannes von Bockenheim – oder auch Jean de Bockenheim – bekannt. Viel wissen wir über ihn nicht. Erstmalig in Erscheinung getreten ist er als Küchenmeister am Hof von Papst Martin V., der ihn in den Tagen nach seiner Wahl auf dem Konstanzer Konzil als Koch anstellte.
Auch wenn Johannes selbst in seinen Schriften immer behauptete, er sei Koch des Papstes („cocus domini Martini pape Quinti“) gewesen, stimmt das nicht so ganz. Am 1. Dezember 1417 wurde er vereidigt – und zwar als „cocus coquine communis palacii apostolici“, also der Koch des Hofstaates und der Gäste des Apostolischen Palastes.
Pfarrer mit Subunternehmern
Gelebt hat Johannes nicht nur vom Kochen. In den Jahren nach dem Konzil hat er sich erfolgreich um ein kirchliches Amt nach dem anderen beworben. Er hatte also gleich mehrere Pfarrstellen gleichzeitig, die er gar nicht alle gleichzeitig wahrnehmen konnte. Wie Kümper bestätigt, sei das gängige Praxis im Spätmittelalter gewesen: Man erhalte Pfründe, stelle einen Diakon ein, bezahle diesem weniger und gehe mit dem Differenzbetrag nach Hause. Ein System voller Subunternehmer. Je mehr Pfarrstellen, desto mehr Einkommen.
Der Verdacht liegt nahe, warum er also – vermutlich um 1430 – ein Kochbuch geschrieben hatte: Vielleicht habe er es mit seinen Küchenhilfen genauso gemacht, mutmaßt Kümper, legt aber Wert darauf, dass es sich um reine Spekulation handelt. Ob Johannes Herbordi nach dem Konzil mit nach Rom gezogen ist oder wieder zurück in die Heimat ging, darüber gibt es keine Quellen. Aber eine der beiden Abschriften des Kochbuchs könnte Aufschluss darüber geben.
Mitten in Paris befindet sich die Bibliothèque nationale de France (BnF) – die französische Nationalbibliothek. Verantwortlicher Konservator für mittelalterliche Manuskripte der BnF ist Alexandre Tur. Von einem Saumagen wusste er bis zum Besuch der RHEINPFALZ nichts – auch das Registrum Coquine ist nicht gleich auf den ersten Blick als Kochbuch erkenntlich.
Die Bibliothek des Königs
Das Manuskript wurde im 17. Jahrhundert von Étienne Ballus erworben, dem Bibliothekar von Jean-Baptiste Colbert, Premierminister unter König Ludwig XIV., erklärt Tur. Ballus sei ein Sammler gewesen. „Es ist nicht genau bekannt, wo er das Manuskript gekauft hat, aber seine Sammlung wurde später vom König erworben, und so gelangte sie Ende des 17. Jahrhunderts in die Bibliothèque Royale. Seitdem befindet sie sich hier“, so Tur.
Der Frage, ob Jean de Bockenheim nun mit in den Vatikan gezogen ist, kann man sich nur ein wenig annähern. Einen Hinweis liefert das französische Manuskript, denn es wurde in Italien erworben – wenn auch 200 Jahre später. Zweitens gibt es noch ein anderes Manuskript, das sich heute in Italien befindet – leider nicht öffentlich zugänglich in einer Privatsammlung. Den dritten Hinweis liefert der italienische Küchenhistoriker Marco Gavio de Rubeis, der das Registrum Coquine 2021 auf Italienisch herausgegeben hat: Er unterstellt Johannes ein schlechtes Latein, das offensichtlich von römischer Umgangssprache beeinflusst war. Und Hinweis Nummer vier liefert Alexandre Tur: „Dieses Manuskript wurde wahrscheinlich in Italien kopiert. Das erkennt man an der Form der Handschrift.“
Stomachum porci
Das Registrum coquine ist versteckt in einem Band, der unter dem Namen „fonds latin 7054“ geführt wird. Auf Blatt 66 beginnt es und enthält 74 Rezepte von Speisen, die Johannes am päpstlichen Hof gekocht hat. Darunter auch, unter Nummer 21: „Ad preparandum stomachum porci“ – „Wie man einen Saumagen zubereitet“.
Doch von einem Pfälzer Saumagen ist dort noch nicht die Rede. Im Gegenteil: „pro Saxonibus et Marchionibus“, heißt es. Es soll also den Menschen aus Sachsen und der Mark schmecken. „Damit sind die Deutschen gemeint“, klärt Hiram Kümper auf. Den Begriff „deutsch“ gab es noch nicht, man fasste in dieser Zeit aber – vor allem auch an den Universitäten – die Menschen in verschiedenen „Nationes“ zusammen. Da es vor dem 19. Jahrhundert noch keinen eindeutigen abgrenzenden Begriff für „Pfälzer“ gab, dürften sich die Bockenheimer aus Johannes’ Heimat damit angesprochen gefühlt haben.
Die Nationes, denen das jeweilige Rezept schmeckt, nennt Johannes übrigens bei allen Gerichten. Klar: Sein Werk war eben eng verbunden mit der Arbeit am päpstlichen Hof, wo man für Menschen aus ganz Europa kochen musste. Da war es eben wichtig, dass jeder Geschmack getroffen wird. Der Saumagen schmeckte damals also den Sachsen und Marken. Und heute weiß man: Er schmeckt auch den Pfälzern.