Meinung Bundeswehr im Umbruch: Die Zeitenwende stockt

Der Bundeswehr fehlen Zehntausende Soldaten.
Der Bundeswehr fehlen Zehntausende Soldaten.

Deutschland steckt mitten in einem verteidigungspolitischen Umbruch. Diese „Zeitenwende“ wird der Gesellschaft sehr viel abverlangen. Das ist auch in der Regierungskoalition noch nicht bei allen angekommen.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führt Wladimir Putin den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Von Moskaus neoimperialistischer Aggression geht ein tiefgreifender sicherheitspolitischer Umbruch aus, den Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) korrekt als „Zeitenwende“ bezeichnet. Die Bundeswehr muss erst wieder so ausgestattet werden, dass sie ihren Verteidigungsauftrag überhaupt erfüllen kann: bei Material und Personal. Sie ist zu einem Schatten ihrer selbst zusammengespart worden.

Scholz hat die Zeitenwende vor mehr als zwei Jahren ausgerufen. Darauf folgte ein verlorenes Jahr mit Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Erst ihr Nachfolger Boris Pistorius (SPD) hat seit 2023 für ein beachtliches Momentum gesorgt. Doch Deutschland steht heute immer noch am Anfang dieses verteidigungspolitischen Großvorhabens.

Großbaustelle Personal

Mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro werden gerade die ärgsten Löcher bei der Ausrüstung der Bundeswehr gestopft. Parallel muss der Verteidigungshaushalt kräftig wachsen: mehr Material im Einsatz kostet mehr. Scholz selbst sieht hier ab 2028 einen Bedarf von 80 Milliarden Euro pro Jahr. Manche Verteidigungsexperten halten ein Sondervermögen von 300 Milliarden Euro und einen Verteidigungsetat von über 90 Milliarden Euro für wünschenswert. Für das Bundestagswahljahr 2025 sieht die Bundesregierung einen Etat von 53 Milliarden Euro vor, gerade mal 1,3 Milliarden mehr als 2024. Wie daraus binnen drei Jahren 80 Milliarden Euro werden sollen, liegt im Nebel einer ungewissen politischen Zukunft. Das Problem muss die nächste Bundesregierung lösen.

Eine zweite große Baustelle der Bundeswehr ist das Personal. Hier ist die Lage dramatisch. Die Streitkräfte dümpeln hier bei 180.500 Soldaten, Tendenz: fallend. Das alte, nie erreichte Ziel waren 203.000 Uniformierte. Doch das ist Schnee von gestern. Die Nato hat ihre Verteidigungspläne angesichts des Aggressors Russland umfassend erneuert und erweitert. Das Verteidigungsministerium rechnet nun offenbar mit einem erhöhten Bedarf von mehr als 272.000 Soldaten. Hier klafft eine gefährliche Lücke in der Verteidigungsfähigkeit. Pistorius will deshalb zurück zu einer neuen Form der Wehrpflicht, er wird aber ausgebremst von Teilen seiner eigenen Partei, der Grünen und der FDP. Zudem braucht die Bundeswehr Jahre, um überhaupt wieder die Strukturen für eine größere Anzahl an Wehrdienstleistenden aufzubauen. Auch das Personalproblem wird also die nächste Bundesregierung erben.

Glaubhafte Abschreckung

Doch die Zeit drängt. Russland hat dauerhaft auf Kriegswirtschaft umgestellt, verfügt über deutlich mehr Soldaten als vor zwei Jahren und will militärisch weiter wachsen. Putin hat deutlich gemacht, dass er die gegenwärtigen Grenzen in Europa nicht als endgültig ansieht. Kann die Nato ihn nicht glaubhaft abschrecken, dann werden weitere Angriffe wahrscheinlich – auch um zu testen, wie verteidigungsbereit die Allianz wirklich ist.

Scholz weiß: „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts“. Seine Regierungskoalition ist die Zeitenwende beherzt angegangen. An den Etatplänen und der Wehrpflicht-Diskussion ist allerdings nicht zu erkennen, dass die Koalition hier das Tempo aufrechterhalten will.

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