Meinung Chaostage vor der Wahl in Frankreich

Emmanuel Macron hat nach der Europawahl die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt.
Emmanuel Macron hat nach der Europawahl die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt.

Mit der Ankündigung von Neuwahlen hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine schwere politische Krise ausgelöst. Statt einer Klärung der Lage könnte er das Gegenteil erreichen.

Eine Frage wird in politischen Kreisen in Frankreich derzeit ganz ernsthaft und keineswegs unberechtigt gestellt: Ist Emmanuel Macron verrückt geworden? Ist er ein politischer Brandstifter, der leichtfertig seine eigenen Mitstreiter, Minister wie Abgeordnete, in einen aussichtslosen Wahlkampf schickt, sein Land dem Chaos und vielleicht einer rechtsextremen Regierung ausliefert? Ein selbstherrlicher Narzisst, der sich noch dem Sieg nahe glaubt, während er am Abgrund steht?

Frankreichs Präsident, dessen programmatisches Bekenntnisbuch 2016 den Titel „Revolution“ trug, ist bekannt für provokante Coups. Doch sein jüngster Versuch, einmal mehr die Menschen aufzurütteln, könnte nach hinten losgehen. Für ihn und für das ganze Land.

Seine Ankündigung am Abend der EU-Wahl, als Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden seiner Partei und dem Triumph des rechtsextremen Rassemblement National (RN) die Nationalversammlung aufzulösen und neue Parlamentswahlen anzusetzen, hat eine schwere politische Krise eingeleitet. Alle Parteien sind betroffen. Die konservativen Republikaner stehen vor der Spaltung und versuchen mit allen Mitteln, ihren Chef loszuwerden. Mit seiner Zusammenarbeit mit dem RN opferte Éric Ciotti die einst stolze Regierungspartei seinen persönlichen Karriereplänen.

Die Parteien des linken Lagers, die bei wichtigen Themen wie der Haltung zur EU, zur Unterstützung der Ukraine oder zum Krieg in Nahost weit auseinander liegen, gingen ein ebenso opportunistisches wie unverzichtbares Bündnis ein. Die schnelle Einigung hat Macron kalt erwischt, der auf die ewige Zerstrittenheit der Linken setzte.

Frankreichs politische Entwicklungen haben Seifenoper-Potenzial: Jeden Tag kommt eine neue überraschende Wende. Dazu gehörte auch die in ihrer Klarheit bewundernswerte Aufforderung des Kapitäns der französischen Nationalelf, Kylian Mbappé, wählen zu gehen – und zwar nicht die Extremen. Der 25-jährige Spitzensportler zeigte damit eine Größe, die vielen politischen Verantwortlichen fehlt.

Macrons eigenen Worten zufolge wollte er einen Befreiungsschlag, eine Klärung der Lage – erreichen könnte er das Gegenteil. Weil er seit 2022 nur noch über eine relative Mehrheit in der Nationalversammlung verfügte, wurde er abhängig von der Opposition, mit der er keine Kompromisse fand. Die Blockade könnte sich nach dem zweiten Wahlgang am 7. Juli noch verschärfen – entweder mit noch uneindeutigeren Mehrheitsverhältnissen oder mit einer sogenannten „Kohabitation“, die der Mitte-Präsident mit einer rechtsextremen Regierung eingehen muss.

Es ist eine Vorstellung, die die RN-Wähler entzückt, aber Millionen Franzosen entsetzt. Das RN-Programm besteht aus teuren Versprechen, deren Finanzierung unklar ist – die Finanzmärkte reagieren bereits, was die ohnehin angespannte Haushaltslage verschärft.

Fünf Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele geht Frankreich unsicheren Zeiten entgegen. Vor der EU-Wahl warnte Macron in dramatischen Worten, Europa sei sterblich. Der tödliche Stoß könnte ausgerechnet aus seinem eigenen Land kommen. Ein rechtsextrem regiertes Frankreich droht auch die EU zu blockieren.

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