Politik Der Kandidat im Hamsterrad

Gestern in Potsdam: Auf dem Luisenplatz arbeitet sich Martin Schulz vor etwa 2000 Zuhörern an der Kanzlerin ab. „Das Konzept der Union zur Rente ist klar: Sie hat keins.“ Beifall brandet auf. Doch bevor Schulz seine Dramaturgie zur Ungleichheit der Löhne von Frauen und Männern aufbauen kann, stiehlt ihm ein Terrier die Schau. Der Hund kommt auf die Bühne getippelt und trägt ein rotes Wams. Schulz hält inne, schaut den Vierbeiner an und deutet auf eine Frau in der ersten Reihe: „Ist das Deiner? Hat die richtige Farbe!“ Das Publikum lacht. Der Hund rast zurück zu Frauchen. „Jo Mensch, jetzt wollt’ ich ihm grad ein Beitrittsformular geben“, ruft Schulz ihm hinterher. Wieder lacht die Menge. Der SPD-Kanzlerkandidat hat gut improvisiert, obwohl ihm die Mühen der Kampagne anzumerken sind. Vor vier Jahren hatte zur gleichen Zeit sein Vorgänger Peer Steinbrück schon jede Contenance verloren, als er den berühmten Stinkefinger zeigte – ein Ausdruck von Frust und Überheblichkeit. Und das, obwohl Steinbrücks Umfragewerte damals besser waren als die von Schulz heute. Gestern in Potsdam sind die Schulz-Anhänger mit ihrem Kandidaten zufrieden. Aber sie rasten nicht aus wie damals, als der Europapolitiker auf Vorschlag des damaligen Parteichefs Sigmar Gabriel im Willy-Brandt-Haus zum Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde. Wie einen Erlöser feierten sie ihn. „Die Wüste lebt“, scherzte ein SPD-Funktionär damals hinter vorgehaltener Hand über die entfesselte Partei. Später hievte der Parteitag Schulz mit einem denkwürdigen 100-Prozent-Ergebnis auf den Schild. Damals klang seine Rede kaum anders als die von gestern, in der Schulz soziale Gerechtigkeit einforderte und versprach, sich für ein solidarisches Europa einzusetzen. Würde jemand behaupten, der 61-Jährige sei seit seiner Nominierung ein anderer geworden, er fände dafür keine Belege. Und doch ist die Begeisterung über den SPD-Spitzenkandidaten gewichen. Die drei für die Sozialdemokraten verlorenen Landtagswahlen in diesem Jahr gehen mit ihm heim. Wechselstimmung vermag Schulz einfach nicht auszulösen. Der gelernte Buchhändler ist kein Aufschneider, kein Wichtigtuer. Er hat etwas vorzuweisen, er war Präsident des Europäischen Parlamentes, der beste, den es bis dato gab. Und doch: Der Hype ist weg, die Umfragen im Keller. Und der Kandidat – er läuft im Hamsterrad. Er müht sich, er strampelt sich ab. Allein: Er kommt nicht voran. Was sagt solcher Kampfeswillen aus über einen Menschen? Vielleicht, dass da einer glaubt, man könne nur etwas erreichen, wenn man sich nicht gehen lässt, wenn man mehr als seine Pflicht erfüllt, wenn man nicht verzagt, sondern mit Leidenschaft und Hingabe ein Ziel anstrebt, und sei es noch so entfernt. Wie so oft bei Politikern ist auch der Mensch Schulz schwer zu fassen. Es sei denn, man geht dorthin, wo Schulz seinen inneren Kompass gefunden hat. Es gibt diesen Ort, da spricht Schulz sehr offen über sein Leben. Der Ort heißt Würselen. In der kleinen Stadt unweit von Aachen ist Schulz aufgewachsen, von dort aus wollte er die Welt als Profifußballer erobern. Es hat nicht geklappt: Der Linksverteidiger bei Rhenania Würselen 05 erlitt eine schwere Knieverletzung. Als der Traum geplatzt war, verfiel Schulz dem Alkohol. Seit 1980 ist er trocken. Er gründete eine Buchhandlung, wurde mit 31 Jahren Bürgermeister von Würselen und war von 1994 bis 2017 EU-Politiker. Vor kurzem hat der SPD-Mann Berliner Journalisten in seine Heimat eingeladen. Schon bei der Begrüßung in Aachen ist Schulz ein anderer als in der Hauptstadt. Er spricht den Dialekt des Dreiländerecks, er ist gefärbt vom Belgischen und vom Niederländischen. Auf der Straße grüßen ihn viele Menschen, er duzt sie alle, am Ende des Tages duzt er auch die mitreisenden Journalisten. Schulz ist beschwingt vom Sound der Heimat, er deutet in alle Himmelsrichtungen, weil er eine Geschichte kennt, die sich dort und dort abgespielt hat. Lachend erzählt er, dass der Platz, an dem die Polizei, das Finanzamt und der Bischofssitz liegen, von den Aachenern das „Drei-Räuber-Eck“ genannt wird. Zum Schrecken der Sicherheitskräfte improvisiert er eine Stadtführung, herzt den Dompropst, der alle zum Karlsthron führt. Dann geht es zum Rathaus, dort hat Schulz 2015 den Karlspreis entgegengenommen, „in Würdigung seiner bedeutenden Verdienste um eine Stärkung der Parlamentarisierung und der demokratischen Legitimation in der Europäischen Union und in Anerkennung seiner Rolle als wichtiger Vordenker der EU“, wie es in der Begründung hieß. Mit kaum verborgener Eitelkeit zeigt Schulz vor dem Krönungssaal auf eine elektronische Infotafel, auf der ein Porträtfoto von ihm und den anderen bisherigen Karlspreis-Trägern zu sehen ist. Schulz drückt auf mehrere Knöpfe und murmelt: „Da musset doch noch nen Video von meiner Ansprach’ geben, Mensch, ah, da isset ja.“ Schulz schaut Schulz beim Reden zu. Er lächelt selig und nickt. Er ist stolz auf das, was er geleistet hat. Aachen und Würselen, das Dreiländereck bei Vaals, alte Freunde, seine Ehefrau, die zwei erwachsenen Kinder – das Kraftzentrum des SPD-Politikers liegt ganz weit im Westen der Republik. Doch niemand würde Schulz Provinzialität unterstellen. Dafür hat er sich als Präsident des Europäischen Parlamentes zu versiert auf dem internationalen Parkett bewegt. Schulz kann in beiden Welten leben, der kleinen und der großen. Am Abend erzählt Schulz in der Alten Feuerwache von Würselen Anekdoten aus seiner Bürgermeisterzeit. Würselen ist eine Arbeiterstadt, hier wählt man SPD, anders als im schwarzen Aachen nebenan. Jahrhundertelang holten die Männer hier Steinkohle aus der Erde, später auch Braunkohle. Nach dem Krieg war Würselen ausgebombt, „vollkommen platt gemacht“, wie es Schulz formuliert. Die Stadt ist heute eine Hochburg der Friedensbewegung. Schulz war gerne Bürgermeister, „nah bei den Menschen, das verschafft Erdung“. Ein Satz, der an Kurt Beck erinnert. In einem Schaukasten hängen alte Zeitungsartikel. Auf einem ist Schulz mit Bürgermeisterkette bei der Ehrung verdienter Feuerwehrleute zu sehen. Es wirkt, als sei es eine würdevolle Veranstaltung gewesen. So etwas kann Schulz: Feierlichen Ernst an den Tag legen und diesen mit einer Pointe durchbrechen. Wenn Schulz über seine Familie erzählt, fängt er im 19. Jahrhundert an. Sein Großvater schuftete als Dachdecker auf den Aachener Kirchen, der Vater, der aus dem Saarland stammt, war Dorfpolizist. Berührt ist er immer noch von der Geschichte seines Onkels, der Fronteinsatz und russische Gefangenschaft überlebte, aber als Minenräumer starb – nach dem Krieg und doch noch als dessen Opfer. Muss man das wissen, um Schulz zu verstehen? Vielleicht schon, wenn ein Mann Kanzler werden will und Deutschlands Rolle in der Welt auch mit dem Blick auf dessen Geschichte definiert. Die weniger schönen Phasen in seinem eigenen Leben hat Schulz öffentlich nie verschwiegen, wohl auch deshalb, weil sein Weg gezeigt hat, dass man sich mit eigener Kraft und der Hilfe der Familie und guter Freunde wieder aufrappeln kann. Dafür ist Schulz den Seinen ewig dankbar. So gut es geht, schirmt er sein Privatleben ab. Nur noch wenige Tage sind es bis zur Wahl. Niemand in der SPD-Führungsebene verliert ein schlechtes Wort über Schulz, aber alle kennen sein Problem: Er wird nicht als Alternative zu Merkel wahrgenommen, vielmehr diskutiert das Wahlvolk darüber, wer den Kampf um Platz drei gewinnt und damit erster Anwärter für eine Koalition mit der Union sein könnte. Schulz bemüht sich um Aufmerksamkeit, wendet sich mit einem handgeschriebenen Brief per Zeitungsannonce an die Wähler, gibt Youtubern ein Interview, fordert die Kanzlerin zu einem zweiten Duell. Und er zeigt „rote Linien“ auf, die er bei einer möglichen Koalition nicht übertreten werde: Schulz verspricht, sich für gerechte Löhne für Frauen und Männer einzusetzen, für die Abschaffung der „willkürlichen Befristung“ und ein Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit. Außerdem sagt er ein Modernisierungsprogramm für Schulen, den Ausbau der Ganztagsschulen und die Abschaffung der Kita-Gebühren zu. Und bei der Rente seien mit ihm Kürzungen nicht zu machen, und überhaupt: Eine Rente mit 70 ist für ihn tabu. Schulz, der Kandidat, der aus dem Nichts kam, der Aussteiger aus dem Brüsseler Raumschiff, wollte nie wieder auf der Verlierseite stehen. Das treibt ihn an. Ob sich der Wunsch erfüllt, wissen wir in gut einer Woche. Die Serie Die bisherigen Beiträge sind erschienen am 11. September (AfD), 12. September (Linke), 13. September (FDP), 14. September (Grüne) und 15. September (CDU).

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