Nahost Der neue Hamas-Chef: Wer ist Israels Staatsfeind Nummer eins?

Versteckt in Tunneln unter Gaza: Hamas-Chef Sinwar.
Versteckt in Tunneln unter Gaza: Hamas-Chef Sinwar.

Jihia Sinwar gilt als rücksichtsloser Urheber des Hamas-Massakers am 7. Oktober. Nun ernennt die Hamas ihn zu ihrem Alleinherrscher. Was heißt das für Israel und die Bevölkerung im Gazastreifen?

Die islamistische Terrororganisation Hamas hat den bisherigen Gaza-Chef Jihia Sinwar überraschend zum Anführer der gesamten palästinensischen Gruppierung ernannt. Bislang war die Führung der Hamas auf einen Chef für den Gazastreifen und einen außerhalb des Küstengebiets aufgeteilt. Nach der Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija übernimmt Sinwar auch dessen Rolle.

Anders als sein Vorgänger Hanija, der als Vorsitzender des Politbüros ein Luxusleben in Katar führte, hält sich Sinwar seit dem von ihm befehligten Massaker der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober vergangenen Jahres versteckt. Er wird irgendwo im weit verzweigten Tunnelnetzwerk unter dem blockierten Küstenstreifen vermutet.

„Schlächter von Chan Junis“

Sinwar steht ganz oben auf der Abschussliste der Regierung in Jerusalem: Direkt nach dem Hamas-Massaker hatte Israel ihn bereits als „lebenden Toten“ bezeichnet. Seine Wahl zum alleinigen Hamas-Chef verwandele die Hamas in eine „Ein-Mann-Bewegung mit einer einzigen Vision“, schrieb der israelische Politikexperte Avi Issacharoff. Sinwar betrachte es trotz der verheerenden Zerstörungen im Gazastreifen als Sieg, den Krieg zu überleben und den Verbleib der Hamas an der Macht zu sichern.

Der wegen seiner Morde an angeblichen palästinensischen Kollaborateuren mit Israel als „Schlächter von Chan Junis“ bekannte Sinwar gilt als ideologischer Fanatiker, aber gewiefter Stratege. Wohl mehr als jeder andere Hamas-Führer steht er Israels Erzfeind Iran nahe. Während Hanija noch als Realpolitiker mit gewissen pragmatischen Erwägungen galt, geht der 1962 geborene Sinwar kompromisslos vor.

„Jetzt gibt es niemanden mehr, der es wagen würde, dem allmächtigen Anführer zu widersprechen, der sich als Retter und möglicherweise palästinensischer Messias sieht“, schrieb Issacharoff. „In vieler Hinsicht geht die Hamas mit der Entscheidung, einen solchen Extremisten zu ernennen, in eine noch radikalere Richtung als bisher.“ Sinwar habe mit seinem Vorgehen seit dem 7. Oktober bewiesen, „dass er ein gefährlicher Mann mit radikalsten Ansichten“ sei, so Issacharoff. „Er hat die Hamas in den bisher brutalsten und schmerzhaftesten Gaza-Krieg geführt und es war ihm absolut bewusst, dass er Tausende von Palästinensern auf dem Altar seiner Vision opfern würde.“

Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter

Für den israelischen Sicherheitsexperten Avi Melamed könnte die Ernennung von Sinwar zum Gesamtchef den Bestrebungen der Hamas schaden, den gegenwärtigen Krieg mit Israel als Organisation zu überleben. Außerdem könne es die Legitimität der Hamas auf der internationalen Bühne noch weiter verringern, meint Melamed. Denn mit der Wahl Sinwars stelle sich die Hamas letztlich klar hinter dessen Strategie des bewaffneten Widerstands und hinter die Verbrechen des 7. Oktobers.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag beantragte im Mai Haftbefehl auch gegen Sinwar. Er warf ihm – und den mittlerweile getöteten Hamas-Führern Hanija und Mohammed Deif – unter anderem „Ausrottung“ sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Wie sich die Bündelung der ganzen Macht in Sinwars Händen auf die Bemühungen um eine Waffenruhe im Gaza-Krieg auswirken wird, ist noch ungewiss. Auch vor der Tötung Hanijas galt Sinwar als „letzte Instanz“ bei den indirekten Verhandlungen mit Israel, an denen Katar, Ägypten und die USA beteiligt sind. US-Außenminister Antony Blinken sagte, es hänge nun maßgeblich von Sinwar ab, ob ein Abkommen über eine Waffenruhe in Gaza gelingt.

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