Politik Die Mär von der Urwahl

Unmittelbar nach der Ankündigung, Fraktionschefin Andrea Nahles werde den SPD-Parteivorsitz von Martin Schulz zunächst kommissarisch übernehmen und sich später einem Parteitagsvotum stellen, regte sich Unmut in der SPD. Der linke Flügel forderte eine „Urwahl“ der Parteispitze. Die aber ist gar nicht möglich.

Der Begriff Urwahl ist in zweifacher Hinsicht irreführend. Zum einen suggeriert er, dass die SPD-Basis über die Nachfolge von Schulz regelrecht abstimmen könnte. Was aber kurios ist, da eine wie auch immer geartete Urwahl nur sinnvoll ist, wenn es mehr als eine Kandidatin oder einen Kandidaten gibt. Aktuell scheint sich allein Nahles für den Parteivorsitz zu bewerben. Wenn – Stand heute – ohnehin nur eine Person nach dem Posten greift, wäre eine Urwahl überflüssig. Die SPD hat dies bisher ein einziges Mal praktiziert, wobei hier der Begriff Urwahl fehl am Platze ist. 1993 ging Rudolf Scharping als einer von drei Bewerbern aus einer „Mitgliederbefragung“ als Sieger hervor. Die anderen Kandidaten waren Heidemarie Wieczorek-Zeul und Gerhard Schröder. Ein Parteitag in Essen bestätigte dieses Votum und kürte Scharping auch zum Kanzlerkandidaten. Am Rande sei erwähnt, dass die SPD damals im Parteivorstand geschlagene sieben Stunden über das Wahlverfahren diskutiert hatte. Viele seinerzeit wichtige Personen hatten sich gegen eine Urwahl durch die Mitglieder ausgesprochen, unter anderem Oskar Lafontaine. Für eine Wahlmänner-Entscheidung nach amerikanischem Vorbild hatte Franz Müntefering geworben. Der zweite irreführende Aspekt beim Begriff Urwahl ist der schon beschriebene Umstand, dass die Parteibasis zwar eine Person (aus-) wählen kann, aber allein dem Parteitag die letztgültige Entscheidung über den Parteivorsitzenden vorbehalten ist. Das Votum des Parteitages ist sogar ein Muss. So ist es im „Gesetz über die politischen Parteien“ (kurz: Parteiengesetz) für ausnahmslos alle Parteien geregelt. In Paragraf 9, Absatz 3 heißt es: „Der Parteitag wählt den Vorsitzenden des Gebietsverbandes, seine Stellvertreter und die übrigen Mitglieder des Vorstandes (…).“ Dieser Passus schließt also nicht nur die Urwahl eines Vorsitzenden durch die Basis aus, sondern auch die Urwahl des kompletten Vorstandes. Selbst wenn die SPD ihr Organisationsstatut in diesem Sinne ändern würde, müsste sie so verfahren, wie es das Parteiengesetz vorschreibt. Ungeachtet dieser Gesetzmäßigkeiten fordern Vertreter des linken SPD-Flügels die Ausweitung der Mitgliederbeteiligung. Gemeint sind damit mehr plebiszitäre Elemente, die verhindern sollen, „dass der SPD-Vorsitz quasi unter der Hand vergeben und die Partei vor vollendete Tatsachen gestellt wird“, wie es die Parteilinke Hilde Mattheis formuliere. Auch die geschäftsführende Bundesfamilienministerin Katarina Barley war so zu verstehen: „Der Urwahl-Idee kann ich grundsätzlich etwas abgewinnen und bin dafür offen, denn die direkte Beteiligung der Mitglieder schafft Vertrauen.“ Bezogen auf die aktuelle Lage wurde diese Einlassung Barleys so verstanden, dass sie gerne weitere Kandidaten für den Parteivorsitz sehen würde, damit so einer „Urwahl“ durch die Basis der Weg bereitet werden könnte. Auch wurde vermutet, dass Barley eigene Ambitionen auf diesen Job verfolgt. Dem widersprach sie allerdings einen Tag später. Für die SPD sei niemand besser geeignet als Andrea Nahles, versicherte die frühere Generalsekretärin der Partei. Insofern hat sich Barley anfangs wenn nicht naiv, so doch recht ungeschickt ausgedrückt.

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