Politik „Es herrscht strategische Sprachlosigkeit“

Stammt aus Rheinland-Pfalz und beriet lange Jahre Bundeskanzler Helmut Kohl: Professor Werner Weidenfeld.
Stammt aus Rheinland-Pfalz und beriet lange Jahre Bundeskanzler Helmut Kohl: Professor Werner Weidenfeld.

Der Endspurt im bayerischen Landtagswahlkampf hat begonnen. Über die Chancen der CSU, doch noch überzeugend zu siegen, und die Aussichten der SPD sprach Paul Kreiner mit Werner Weidenfeld. Der 71-jährige ist Gründer des Centrums für Angewandte Politikforschung an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Vor seiner Zeit in München lehrte er an der Universität Mainz. Von 1987 bis 1999 war er Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit.

Herr Professor Weidenfeld, die CSU ist in den Umfragen so tief gerutscht wie noch nie. Kann sie den Trend in den dreieinhalb Wochen bis zur Landtagswahl noch umkehren?

Eine wirkliche Wende ist nicht drin. Dazu ist die Lage viel zu klar, und bei der CSU haben sie ja auch nicht die genialen Toptalente, die mit ein paar wenigen Sätzen die Stimmung umdrehen könnten. Vielleicht bekommen sie noch zwei Punkte mehr, als die Umfragen signalisieren. Es könnte ja die Stimmung aufkommen: Wir haben gezeigt, dass es gut ist, dass die mal eins auf die Nase kriegen, aber ganz so schlimm wollen wir’s am Ende auch nicht. Das ist die einzige Chance, sonst gibt’s keine. Eigentlich wollte die CSU mit Markus Söder als neuem Ministerpräsidenten durchstarten. Was hat er in seinen ersten sechs Monaten falsch gemacht? Es liegt nicht primär an Söder. Es liegt an der Führungsmannschaft. Die Menschen erleben die CSU-Führung als Querulanten, als Streithansl. Das ist das Erscheinungsbild der CSU seit Jahren. Seehofer gegen Söder, und wenn denen gegeneinander nichts mehr eingefallen ist, dann ging’s gegen Merkel. Das ging auch nach dem Wechsel von Seehofer zu Söder in Bayern so weiter. Es war immer Streit, und das können Sie angesichts des Erinnerungsvermögens der Wähler nicht von heute auf morgen wieder umkippen. Söder schiebt alles auf die Bundespolitik. Aber so einfach ist das wohl nicht? Ja, genau so ist es. Hinzu kommt etwas, was auch andere Traditionsparteien wie die SPD schwächt. Sie haben ein Deutungsdefizit zur politischen Lage. Ich will als Bürger wissen, wie dieses Land in fünf oder zehn Jahren aussieht. Dazu erfahre ich nichts. Das ist eine strategische Sprachlosigkeit. Wenn ich die Frage aufwerfe, wie leben wir dann, dann nennt man mir einen oder zehn oder 100 Punkte – so und so viele Kitas, Weltraumfahrt in Bayern –, aber es wird kein strategisches Gesamtbild gezeichnet. Das ist die elementare Schwäche, die indirekt die AfD groß macht. Herrscht nach 61 Regierungsjahren vielleicht auch Überdruss an der CSU? Das kommt dazu. Der Überdruss hat sich nur deshalb nicht früher eingestellt, weil die CSU immer wieder neue programmatische und personelle Angebote gemacht hat. Franz Josef Strauß zum Beispiel: Nennen Sie mir heute einen Politiker, der diese Ausstrahlung hat. Die sind doch alle viel zu langweilig dafür. Kriegt man die Wähler zurück, die zur AfD-Wähler gegangen sind? Man könnte. Aber man bekommt sie nicht zurück. Die Leute werden zu AfD-Wählern, weil sie frustriert und verängstigt sind. Sie wissen nicht, wie alles läuft; sie sagen: Die Oberen kümmern sich sowieso nicht um uns, ich werde mit meinen Sorgen allein gelassen. Diese Frustration hat früher dazu geführt, dass man bei den Wahlen zuhause geblieben ist. Jetzt kann ich meine Frustration irgendwo andocken, und das mache ich bei der AfD. Die gleichen Leute erwarten nicht, dass die AfD alle ihre Probleme löst, aber sie können damit Frustration zum Ausdruck bringen. In der alten Parteiengeschichte wäre die AfD längst wieder verschwunden, so wie die sich in der Führung untereinander zerfleischen. Heute ist das den Leute völlig wurscht. Egal, wer bei denen vorne steht und ob man den kennt. In Bayern hat die AfD keinen Spitzenkandidaten, das ist den Leuten doch egal. Hauptsache, ich kann irgendwo meine Frustration abladen. Aber die Gebiete Bayerns, wo die AfD bei der Bundestagswahl die meisten Stimmen geholt hat, bis zu 20 Prozent – das sind alles wohlhabende Gegenden, fast ohne Arbeitslosigkeit. Warum gibt’s da Frustrierte? Weil Menschen auch jenseits von Arbeitslosigkeit Sorgen haben. Immanuel Kant hat gesagt: Alles ist Perzeption. Es gibt kein Ding an sich, nur die Wahrnehmung davon. Dieser Wahrnehmungshorizont ist das Entscheidende, nicht die soziologischen Gegebenheiten. Die Leute sind am Ende tief besorgt, ob nicht die Arbeitslosigkeit sie irgendwann erfasst. Auch dort wo gar keine existiert. Muss man die SPD mit ihren aktuell elf Umfrage-Prozenten schon zu den Kleinparteien rechnen, oder hat die noch eine Chance? Die SPD wird vielleicht noch weiter abrutschen, wenn ihr nicht gelingt, was ich auch von der CSU eingefordert habe: eine Art klare Zukunftsstrategie anzubieten. Ein Gesellschaftbild wie in klassischen Zeiten – dass die Menschen frei und gleich werden sollten und nicht unter dem Joch der Kapitalisten leiden müssen – bietet die SPD nicht mehr an. Sie hat auch nicht mehr die alten Bindungen, an die Gewerkschaften vor allem. Es gibt auch kein Lagerdenken mehr. Wir leben in einem fluiden Stimmungsmilieu, im Gegensatz zu früher, als die Lage bestimmt war von rund 90 Prozent Stammwählern.

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