Interview Ingrid Brodnig: „Soziale Medien sind Drama-Maschinen“

Die Österreicherin Ingrid Brodnig hat bisher sechs Bücher verfasst, in denen sich die Autorin und Journalistin mit den Auswirkun
Die Österreicherin Ingrid Brodnig hat bisher sechs Bücher verfasst, in denen sich die Autorin und Journalistin mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft auseinandersetzt.

Hass und Hetze im digitalen Raum wirken sich ganz real auf unser Miteinander aus. Mit welchen Methoden öffentliche Debatten gezielt zerstört werden und wie man gegensteuern kann, erklärt Autorin und Digitalexpertin Ingrid Brodnig im Interview.

Frau Brodnig, in der südwestpfälzischen Gemeinde Fischbach ist vor Kurzem der Ortsbürgermeister zurückgetreten. Als Begründung gab er das „unterirdische Miteinander“ in den sozialen Medien an. Laufen wir Gefahr, durch die aufgeheizte Debattenkultur im Netz wichtige Stimmen im politischen Diskurs zu verlieren?
Gerade über Social Media gibt es die Gefahr, dass man eine sehr dunkle Weltsicht abbekommt, weil diejenigen, die laut und vehement auftreten, oft die überzeugtesten und teilweise auch politisch sehr heftig denkenden Personen sind. Wir sehen dahingehend eine Verzerrung, dass das Meinungsbild online nicht dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht. Es gibt immer wieder solche Einzelfälle, wo es Menschen auf der lokalen Ebene zu viel wird. Wenn ich selbst meinen Social-Media-Kanal betreuen muss, weil das kein Personal übernimmt, dann fühlt sich das womöglich noch wilder an. Ich habe auch schon mit hochrangigen Politikerinnen und Politikern darüber gesprochen und von denen haben einige mit der Zeit aufgehört, die Beiträge auf Social Media selbst zu lesen, und geben das an ihr Personal ab. Das ist ein Schutzschild. Auf der politischen Ebene, wo ich keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe, die vieles für mich abfangen, aber gleichzeitig das Gefühl habe, ich muss auf Social Media meine Arbeit herzeigen, kann das natürlich eine belastende Dimension haben.

Wie gefährlich sind soziale Medien für die Demokratie?
Wenn ich gerade nach Großbritannien schaue, halte ich das für total gefährlich. Dort gibt es aktuell brutale und rassistische Ausschreitungen, deren Initialzündung Desinformationen waren. Nach einem Messerangriff auf kleine Kinder, bei dem drei Mädchen ermordet worden sind, wurde behauptet, dass der mutmaßliche Täter ein Geflüchteter ist und gezielt aufgestachelt, obwohl er ein Brite war. Da wurden Feindbilder genutzt, die sehr viel Wut hervorbringen können. Gewaltausschreitungen, die durch Falschmeldungen mitangetrieben werden, sind so ein Extrembeispiel.

In Ihrem neuen Buch „Wider die Verrohung“ beschreiben Sie, welche Mechanismen zu einer Polarisierung der Gesellschaft, wie wir sie etwa aktuell in England erleben, führen. In welchen Bereichen zeigt sich die Verrohung?
Da gibt es extreme Beispiele von Verrohung und dann gibt es auch harmlosere Fälle. Das extreme Beispiel ist wirklich Gewalt auf der Straße. Ich denke zum Beispiel an Matthias Ecke, der im Europawahlkampf als er Plakate aufhängen wollte, brutal niedergeschlagen worden ist. Diese Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker ist das deutlichste Beispiel dafür, dass etwas ganz massiv falsch läuft. Aber wir erleben auch harmlosere Beispiele, wo schnell mit einer sehr harten und feindseligen Rhetorik gearbeitet wird. Wenn etwa Alice Weidel im Bundestag behauptet, Deutschland würde brennen und die Regierung wäre der Brandstifter. Am häufigsten sind Debatten, die zugespitzt, überemotionalisiert oder überdramatisiert geführt werden.

Welche Methoden tragen zur Verrohung der Debattenkultur bei?
Die Beleidigung ist eine der effizientesten Methoden, um Debatten zur Eskalation zu treiben. Wer beleidigt, kriegt Aufmerksamkeit und profitiert von Reichweite. Ein Beispiel ist Donald Trump, der sein gegenüber mit Ad-hominem-Attacken lächerlich macht. Das ist eine Form der Beleidigung, die sich von der Sachebene entfernt und die Glaubwürdigkeit oder den Charakter einer Person angreift. Diese Form der Beleidigung wird auch dazu genutzt, den eigenen Fans zu sagen: Ihr müsst diese Person und ihre Argumente nicht ernst nehmen. Beleidigungen fördern also nicht nur Aufmerksamkeit, sondern sind auch ein Signal an die eigenen Fans, wo sie einfach ihre Ohren schließen sollen. Obwohl wir zwar als Kinder gelernt haben, man soll nicht beleidigen, bringen solche aggressiven Diskussionsstile Vorteile und werden darum auch so stark genutzt.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien dabei?
Die sozialen Medien liefern uns ständig Stoff für Empörung. In den USA gibt es eine Auswertung der Psychologin Molly Crockett. Danach haben Menschen, die sich über das Internet informieren, verglichen mit Offline-Gesprächen oder den klassischen Medien eine höhere Wahrscheinlichkeit, auf Neuigkeiten zu stoßen, die über Wut und Ekel eine moralische Empörung auslösen. Das heißt, wenn ich viel Zeit online verbringe, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich sehr viel Aufwühlendes oder auch Verstörendes sehe. Das ist nicht der Durchschnitt der Welt. Soziale Medien sind in meinen Augen Drama-Maschinen. Das ist besonders bei politischen Themen schlecht, die Konsens verlangen.

Welche Verantwortung tragen die Betreiber der Plattformen?
Die Algorithmen sozialer Medien sind so gebaut, dass das, was dramatisch ist und wütend macht, besser funktioniert. Wut aktiviert Menschen: Politische Facebook-Werbung, die Wut auslöst, wurde mehr als doppelt so oft angeklickt wie neutrale Botschaften. Das beobachtete der Politologe Timothy Ryan. Und Algorithmen belohnen, was viel Interaktion auslöst. Das heißt, online lohnt sich Wutstiften ganz besonders, weil ich oft eine bessere Reichweite damit erziele. Influencer nennen das „Rage Bait“. Die Sache ist aber auch, dass man Online-Plattformen anders gestalten kann. Man könnte Algorithmen so bauen, dass solche Inhalte nicht übermäßig häufig angezeigt werden. Technisch kann man schon davon ausgehen, dass Plattformen noch mehr tun könnten. Das Zweite ist, dass es womöglich noch mehr Regulierung oder zumindest noch mehr harte Schritte gegen die Plattformen braucht. Die EU-Kommission prüft zum Beispiel sowohl TikTok, X als auch Meta. Da muss man schauen, was auf der politischen Ebene passiert.

Was können Nutzerinnen und Nutzer tun, um sich angesichts der aufgeheizten Stimmung in sozialen Medien zu schützen?
In ganz vielen Untersuchungen zeigt sich ein Trend. Es ist eine winzige Minderheit, die den absoluten Großteil der Inhalte liefert. Für TikTok in den USA wurde das bei erwachsenen Nutzern ermittelt. Da hat das aktivste Viertel, also 25 Prozent, 98 Prozent aller öffentliche einsehbaren Videos erzeugt. Zum Großteil ist das eine kleine Gruppe, die sehr dominant auftritt. Ähnliche Zahlen spiegeln sich auch auf anderen Plattformen wider. Ich glaube, der erste Schritt ist tatsächlich, sich bewusst zu sein, dass das Internet ein Zerrspiegel ist. Ich finde das selbst oft extrem empörend, was ich online lese, und man fragt sich dann, ob die Leute wirklich so ticken. Wenn man sich dann vor Augen führt, dass das nicht die Mehrheit ist, sondern die Leute, die am meisten Mitteilungsbedürfnis haben, ist das schon ein guter erster Schritt.

Im Buch beschreiben Sie Methoden, die zur „gezielten Zerstörung öffentlicher Debatten“ genutzt werden. Was kann jeder Einzelne tun, um dem gegenzusteuern?
Für mich ist Empathie ein ganz wichtiger Begriff. Auch im Gespräch mit Andersdenkenden kann man Empathie zeigen. Das kann helfen. Ein sinnvoller Zugang ist auch, Gemeinsamkeiten zu suchen und zu betonen. Selbst wenn man den gleichen Sportclub mag, kann das eine versöhnliche Wirkung haben. Das hat der Politologe Matthew Levendusky in den USA bei Wählern von Republikanern und Demokraten getestet. Da herrscht eine starke Polarisierung. Wenn eine Seite aber mitbekommen hat, dass die Person, die die andere Partei wählt, den gleichen Sportclub mag, dann sanken im Schnitt auch die negativsten Einstellungen.

Glauben Sie, dass es uns gelingen kann, die Debattenkultur in den sozialen Medien wieder in einen konstruktiven Austausch zu überführen?
Es wird uns sicher gelingen. Ich weiß nur nicht, ob noch viel Schlimmeres passieren wird, ehe ein gesamtgesellschaftliches Einlenken stattfindet – also noch mehr Streit und noch mehr Spaltung. Manchmal habe ich den Eindruck, wir Menschen müssen wirklich viele negative Erfahrungen gemacht haben, bis wir umdenken oder bis Regulierung folgt. Ich merke, dass einige Leute schon jetzt eine Sehnsucht nach sachlicheren und fairen Debatten haben. Und ich glaube, am Ende werden wir dort landen.

Wider die Verrohung. Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten. Brandstätter Verlag; 176 Seiten; 22 Euro
Wider die Verrohung. Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten. Brandstätter Verlag; 176 Seiten; 22 Euro

Zur Person

Die österreichische Journalistin und Autorin Ingrid Brodnig ist Expertin für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierung und Debattenkultur. In ihren Büchern behandelt sie Themen wie Hass im Netz oder den Umgang mit Desinformation. Für ihre Arbeit wurde die Schriftstellerin mehrfach ausgezeichnet. Brodnigs aktuelles Buch „Wider die Verrohung“ ist Anfang Juli im Brandstätter Verlag erschienen. Darin gibt sie Tipps, um auf Emotionalisierung und Fake News besser antworten zu können.

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