Politik „Irgendwas machen wir doch falsch!“

Die „Schulz-Story“, die der „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe auf 18 Seiten abdruckt, ist in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit. Denn noch nie ist es einem Journalisten gelungen, in der heißen Phase eines Wahlkampfes einen so tiefen Einblick in die Gefühlswelt eines Spitzenkandidaten zu erhalten. Und geradezu abenteuerlich ist die offensichtliche Hoffnung von SPD-Kandidat Martin Schulz gewesen, von einer solchen Nahaufnahme nur höfliche Bewunderung zu erwarten. In diesem Fall hätte er übersehen, dass es auch Aufgabe von Journalismus ist, die etwas dunkleren Ecken auszuleuchten. Über 150 Tage hat Autor Markus Feldenkirchen den Merkel-Herausforderer begleiten dürfen. Warum das Schulz gegen den Rat seiner engsten Mitarbeiter zuließ, bleibt sein Geheimnis. Eine Erklärung könnte sein, dass Schulz in der Anfangsphase seiner Kandidatur dem Hype um seine Person selbst auf den Leim ging. In grenzenloser Selbstüberschätzung hoffte er wohl, in dieser Nahaufnahme des „Spiegel“ als menschlicher, emotionaler Politiker dargestellt zu werden, also als das Gegenteil dessen, was die Bürger von Kanzlerin Angela Merkel gewohnt sind. Die „Schulz-Story“ ist auch eine Medien-Story. Der „Spiegel“ hat das großzügige Angebot wahrgenommen, über alles berichten zu dürfen, ohne dass das Geschriebene noch einmal von der SPD-Pressestelle autorisiert wird, wie etwa bei Interviews üblich. Dass die Geschichte am Ende die Anmutung eines Protokolls hat, ist allerdings ein Trugschluss. Denn es sind lediglich Momentaufnahmen, zwischen denen erhebliche zeitliche Lücken klaffen. Was dem Leser präsentiert wird, ist das Ergebnis der subjektiven Auswahl des Journalisten. Ob der Text ein Zerrbild zeichnet oder die Wirklichkeit transportiert, ist letztlich eine Sache des Vertrauens, das der Leser in das Magazin hat. Für Schulz war der Wahlkampf keine Achterbahnfahrt, sondern eine Schussfahrt ins Tal. Man muss Schulz zugute halten, dass er das schon früh erkannte. Elf Wochen vor der Wahl, am 6. Juli, wird Schulz mit den Worten zitiert: „Vielleicht bin ich auch der falsche Kandidat. Die Leute sind nett zu mir, aber sie sind es aus Mitleid. Das spüre ich schon seit einiger Zeit.“ Wenige Tage nach dem Kanzler-Duell sagt der völlig frustrierte Merkel-Herausforderer: „Die Leute finden mich peinlich. Die lachen über mich …“ Solche Sätze stehen in einem kaum schärfer zu zeichnenden Kontrast zu den Worten, die Schulz auf seinen Kundgebungen sprach, wo er sich als künftiger Bundeskanzler ins Rampenlicht rückte. Hinter den Kulissen klappte dieses Märchenschloss binnen weniger Sekunden zusammen. Schulz ahnte das, die Meinungsumfragen ließen keinen anderen Schluss zu. Seine Berater in der Parteizentrale: ratlos. Apropos Umfragen: Wer jemals einem Politiker geglaubt hat, Umfragen interessierten ihn nicht, sollte seine Überzeugung noch einmal überdenken. In der „Spiegel“-Story sind Umfragen für alle Beteiligte ein wahrer Fetisch. Sie sind das Fieberthermometer, das über den Zustand des Patienten Auskunft gibt. Je öfter die Temperatur gemessen wird, desto besser. Mehr noch als die Medien giert die politische Klasse nach den Zahlen. Und sie leitet daraus Strategien ab. „Spiegel“-Autor Feldenkirchen analysiert das treffend: „In der Politik wird die innere Überzeugung zunehmend durch die Demoskopie ersetzt.“ Im Schulz-Wahlkampf ist das überdeutlich geworden. „Irgendwas machen wir doch falsch!“, wird Schulz’ Verzweiflung angesichts der abgesackten Zustimmungswerte kolportiert. Wobei auch der Kandidat nicht ausschließen will, was man in der SPD gerne behauptet: Dass es nämlich eine „Kampagne“ gegen die Partei gebe, natürlich von „den Medien“. Über die tollen Auftritte des Kandidaten berichte kaum einer, nur über die Pannen, klagte dem Bericht zufolge beispielsweise Schulz-Berater Markus Engels. Eigene Fehler? Fehlanzeige. Dabei hat Schulz’ Vorgänger Sigmar Gabriel viel zu spät die Entscheidung getroffen, seinem Freund den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur zu lassen. Niemand im Willy-Brandt-Haus war auf Schulz vorbereitet, es gab keine auf ihn zugeschnittene Kampagne. Schulz habe am Anfang einfach „losgebabbelt“, wie er es offenherzig formulierte. Konkrete Vorhaben wie etwa der „Zukunftsplan“ wurden viel später vorgestellt – aus Rücksicht auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Deren Debakel und sein darauf folgendes Umfragetief kommentierte Schulz trocken: „Für dich haben wir einen hohen Preis gezahlt.“ Auch andere Parteifreunde setzten Schulz zu: Immer wieder gelingt es Außenminister Gabriel, sich mit pointierten Zitaten zu profilieren, etwa zur Türkei- oder Europapolitik. Was Schulz sagt, geht unter. Auch Altbundeskanzler Gerhard Schröder stört die Kreise des Wahlkämpfers. Sein Sitz im Aufsichtsrat des russischen Konzerns Rosneft ist für Schulz eine Kriegserklärung: „Dieser Schröder geht mir auf den Senkel.“ Man kann die „Spiegel“-Geschichte drehen und wenden, es bleibt ein schaler Geschmack. Schulz erscheint im Rückblick als falscher Kandidat, als einer, den Berater mit Banalitäten füttern und der sich schnell verunsichern lässt. Als einer, der schwach wirkt und verletzlich. Das Willy-Brandt-Haus ist dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten zu keinem Zeitpunkt eine Heimat geworden. Vielleicht hätte der Mann aus Würselen, der einmal Bürgermeister war, einfach auf sich und sein Gespür für Menschen hören sollen anstatt auf die Kakophonie der Schlauberger aus der Parteizentrale. An Schulz klebt nun – auch durch die Nahaufnahme des „Spiegel“ – das Etikett: Vorsitzender auf Abruf. Der Ausgang der Niedersachsen-Wahl in zehn Tagen wird darüber entscheiden, ob Schulz sein Amt als SPD-Vorsitzender behalten darf. Der Mann, der das schlechteste SPD-Ergebnis in der Geschichte der Partei zu verantworten hat, hat tapfer gekämpft. Aber reicht das?

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