Politik Leitartikel: Das Beben

Regieren in Berlin könnte ungemütlich werden. Denn das

Bayern-Ergebnis und der prognostizierte Ausgang der Landtagswahl

in Hessen wird Schockwellen in den Volksparteien auslösen. Die Unberechenbarkeit einer

vogelwilden CSU könnte die Statik der Koalition empfindlich stören.

Das war die pure Verzweiflung. Kurz vor Öffnung der Wahllokale gestern Morgen in Bayern hat die CSU zum letzten Mittel gegriffen, das ihr noch zu bleiben schien: Sie bemühte die „Politics of Fear“. So wird, vom britischen Soziologen Frank Furedi trefflich beschrieben, im angelsächsischen Sprachgebrauch Panikmache in der Politik genannt. Also posteten die Christsozialen in letzter Minute auf Facebook: „Die Grünen wollen Multikulti, mehr Zuwanderung ohne Ordnung und Begrenzung, Bevormundung, höhere Steuern und Genderwahn.“ Die Panikmache ist Ausdruck der Hilf- und Ratlosigkeit, die die Christsozialen befallen haben. Nur zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – bei den bayerischen Landtagswahlen 1950 und 2008 – wurde die CSU härter abgestraft als gestern. Das Wahlergebnis dieses Sonntags wird ein Beben in der CSU auslösen, dessen Schockwellen bis nach Berlin reichen werden. Wolfgang Schäuble, ein Doyen der deutschen Politik, erwartet „Erschütterungen“. Es spricht im Übrigen Bände, dass gerade Schäuble im Südwestrundfunk öffentlich davon spricht, CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel sei „nicht mehr so unbestritten, wie sie es über drei oder zweieinhalb Legislaturperioden gewesen ist“. Sorgen bereiten dabei nicht einmal mögliche personelle Veränderungen in der Führung der Christsozialen. Die müssen nach Wahlschlappen immer eingepreist werden. Es ist viel eher die Unberechenbarkeit einer waidwunden und vogelwilden CSU, die die ohnehin fragile Statik der großen Koalition in Berlin ganz empfindlich stören könnte. Auf Bundesebene war die CSU nie ein bequemer Regierungspartner. Stets glaubte sie, ihren bundesweiten Gestaltungsanspruch mit krachledernem „Mia san mia“-Gepolter anmelden zu müssen. Aber selbst wenn die Christsozialen vor Kraft kaum laufen konnten, wie damals in der Ära ihres Säulenheiligen Franz Josef Strauß oder Anfang der 2000er Jahre in der Zeit des Edmund Stoiber, blieben sie berechenbar. Helmut Kohl und Theo Waigel konnten mit einer selbstgewissen und in sich ruhenden CSU sogar die D-Mark abschaffen und den Euro einführen – trotz manchen Grollens aus den bayerischen Bergen. Verstärkt wird die Sorge vor einer kaum beherrschbaren Dynamik durch den Ausblick auf die hessische Landtagswahl in zwei Wochen. Dort drohen – nach heutigem Stand – CDU und SPD gewaltige Verluste. Sie würden erneut unangenehme Diskussionen bei Christ- und Sozialdemokraten auslösen. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Anzahl jener in der SPD zunehmen wird, die der großen Koalition skeptisch gegenüberstehen. Sie würden vor allem auch lauter und unmissverständlicher ihren Unmut über dieses ungeliebte Regierungsbündnis formulieren. Und bei den Christdemokraten könnte die Bindekraft, die Angela Merkel noch hat, weiter abnehmen. Es würde ebenfalls nicht wundern, wenn auf dem christdemokratischen Parteitag im Dezember in Hamburg endlich diskutiert werden würde, vor allem über die Parteiführung. Regieren in Berlin wird nach diesem Wahlsonntag und der Landtagswahl in Hessen nicht leichter werden. Es könnte sogar richtig ungemütlich werden. Das ist nicht nur für das Land schlecht. Eine Bundesregierung, die mehr mit sich selbst beschäftigt ist als mit den Zukunftsherausforderungen, wird den europäischen Partnern Sorgenfalten auf die Stirn treiben.

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