Politik Leitartikel: Gefahr von innen

Das von der EU eingeleitete Verfahren gegen Polen ist richtig und notwendig. Damit einhergehen muss jedoch der politische Kampf um zunehmend

bedrohte zentrale Werte der EU wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Nicht nur die polnische Regierung legt Hand an den Kernbestand des

liberalen Rechtsstaats.

Das gestern eingeleitete Verfahren gegen Polen wegen Verletzung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards sei „politisch motiviert“, heißt es in empörten Reaktionen aus Warschau. Mal abgesehen davon, dass die Reformen der amtierenden PiS-Regierung auch juristisch ausreichend Anhaltspunkte dafür bieten, dass hier rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze verletzt werden: Es wäre gut und notwendig, wenn in Europa endlich all jene aufstehen und den politischen Kampf aufnehmen würden, die dem grassierenden Verfall von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht länger zusehen wollen. Denn es ist ja nicht nur die Regierung Polens, die ebenso unverfroren wie konsequent Hand an das legt, was zum Kernbestand eines liberalen Rechtsstaats gehört: die Gewaltenteilung und damit eine von Regierung und Parlament unabhängige Justiz. Ungarn ist auf diesem Weg schon ein Stück weiter, und der dortige Regierungschef Victor Orban scheut sich nicht, sein Land als Beispiels für eine „illiberale Demokratie“ zu preisen. Derweil in Tschechien mit Andrej Babis ein des Millionenbetrugs Angeklagter Premierminister ist. Russland, USA, Türkei – die Liste der außenpolitischen Risiken und Herausforderungen, denen sich die EU gegenübersieht, ließe sich leicht verlängern. Die wohl größte Gefahr für die Gemeinschaft aber lauert in ihrem Innern. Natürlich ist die EU ein Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten – und wird dies bis auf Weiteres bleiben. Mit dem freiwilligen Beitritt zur EU hat sich aber jeder Mitgliedstaat verpflichtet, bestimmte gemeinsame – wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche – Regeln und Normen einzuhalten. Wenn nun grundlegende Werte der EU – und zu denen gehören nach den Erfahrungen mit Diktaturen rechter und linker Provenienz Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – in einigen Mitgliedstaaten mit Füßen getreten werden, droht der Gemeinschaft als Ganzes Gefahr. Zumal die Abkehr vom Rechtsstaat einhergeht mit einer betont nationalen, in Teilen nationalistischen Politik, die der EU rundweg das Recht abspricht, sich in „innere Angelegenheiten“ einzumischen. Eine solche Vorgehensweise war bislang vor allem aus China und der ehemaligen Sowjetunion bekannt. Das alles geschieht unter Berufung auf einen vermeintlichen „Volkswillen“, als dessen Vollstrecker sich die Regierungsparteien in Polen und Ungarn verstehen. Lange, allzulange hat die EU, haben die übrigen Mitgliedstaaten dieser Entwicklung zugeschaut, haben gemahnt und ihre Sorge geäußert – und stießen damit bei den Adressaten in Mittel- und Osteuropa auf taube Ohren. Auch das nach immer neuen und vergeblichen Verständigungsversuchen eingeleitete Rechtsstaatsverfahren dürfte die polnische Regierung zwar ärgern, aber kaum von ihrem Kurs abbringen. Schließlich weiß sie, dass Sanktionen nur dann in Kraft treten können, wenn alle übrigen EU-Mitglieder sich dafür aussprechen. Und Ungarn hat bereits angekündigt, dafür nicht die Hand zu heben. Auch deshalb muss diese Auseinandersetzung in erster Linie politisch geführt werden – im Rat, wo die nationalen Regierungen zusammensitzen, im Europaparlament, wo Abgeordnete der ungarischen Fidesz-Partei von Premier Orban der gleichen Fraktion angehören wie die von CDU/CSU, auch in der – immer noch äußerst unvollständigen, weil fragmentierten – europäischen Öffentlichkeit. Denn es geht um nicht weniger als um die Frage, wie wir zusammenleben, wie wir regiert werden wollen.

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