Politik Leitartikel: In die falsche Richtung

Europa immer mehr zur Festung auszubauen, wird sich auf lange Sicht als nutzlos erweisen. Für alle Seiten besser wären sinnvolle Investitionen in die Entwicklung der afrikanischen Herkunftsländer der Flüchtlinge. Afrikas Regierungschefs sind nicht unglücklich, dass Teile ihrer

Bevölkerung das Weite suchen.

Voraussichtlich werden in diesem Jahr 80.000 afrikanische Flüchtlinge, falls sie nicht ertrinken, übers Mittelmeer nach Europa kommen. Dagegen muss der kleine ostafrikanische Staat Uganda mit einer Million Flüchtlingen aus Südsudan fertig werden. Von den weltweit 66 Millionen Heimatvertriebenen haben 86 Prozent im Süden statt im wohlhabenden Norden Zuflucht gefunden. Dennoch jammert südlich des Äquators kaum einer über die „Last“. Für Afrikaner ist die Aufnahme von Flüchtlingen eine Selbstverständlichkeit. Dass Afrikas Regierungschefs derzeit so ruhig sind, hat noch andere Gründe: Sie sind gar nicht so unglücklich darüber, dass Teile ihrer Bevölkerung das Weite suchen. Das reduziert den Druck auf den Arbeitsmarkt, dämpft die Unzufriedenheit und bringt willkommene Devisen ein – Staaten wie Eritrea oder Somalia würden ohne das Geld, das die Ausgewanderten in ihre Heimat überweisen, gar nicht überleben können. In dieser Wertschätzung der Migration sind Afrikas Staatschefs allerdings ziemlich allein. Wenn die Bevölkerung wählen könnte, ob sie lieber zu Hause oder – unter Einsatz ihres Lebens – sich auswärts verdingen sollte, würde sie zweifellos die Heimat vorziehen. Entscheidend ist deshalb, an welche Afrikaner sich die europäischen Regierungen wenden, wenn sie die beste Strategie zur Eindämmung des Migrationsdrucks in Erfahrung bringen wollen – falls sie auf dem Nachbarkontinent überhaupt jemanden fragen. Die jüngste Initiative der Bundeskanzlerin, den afrikanischen „Pufferstaaten“ wie einst der Türkei Geld zukommen zu lassen, falls sie den Migrationsstrom drosseln helfen, geht exakt in die falsche Richtung. Den Regierungen undemokratischer oder gescheiterter nordafrikanischer Staaten wie Libyen, Ägypten, Sudan oder Algerien Geld zukommen zu lassen, damit sie Afrikaner aus anderen Staaten stoppen, internieren und schließlich wieder zurückschicken, ist ein an Kurzsichtigkeit und Zynismus kaum noch zu überbietender Vorschlag. Er belohnt die menschenrechtswidrigen Praktiken von Unrechtssystemen und wird Nordafrika in ein Pulverfass verwandeln. Würden Europas Regierungschefs dagegen Vertreter der afrikanischen Bevölkerung – Gewerkschafter, Krankenschwestern, Lehrer oder Bauern – fragen, erhielten sie ganz andere Antworten. Diese sind nämlich interessiert daran, ihre Brüder und Schwestern im Land zu halten. Schließlich machen sich vor allem die Gewieften und Unternehmungslustigen auf den Weg – genau jene also, die man zu Hause am dringendsten braucht. Afrika hat derzeit die besten Chancen, aus seinem durch den Kolonialismus verursachten Alptraum zu erwachen: Technologien wie der Mobilfunk, das Internet und das chinesische Engagement bei der Verbesserung der Infrastruktur haben ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Das wusste man zumindest bis vor kurzem auch in Berlin: Dort war zum Hamburger G-20-Gipfel etwa vom „Compact with Africa“ die Rede, mit dem man ausgesuchten afrikanischen Volkswirtschaften unter die Arme greifen wollte. Ein Jahr später ist von den Vorsätzen allerdings nichts umgesetzt, klagen selbst Wirtschaftsvertreter. Wie viel den Europäern die langfristige Lösung der Migrationskrise wert ist, bleibt ihnen natürlich selbst überlassen. Sie sollten aber wissen, dass jeder in die Abschottung Europas investierte Euro unproduktiv, die eigene Freiheit behindernd und auf lange Sicht nutzlos ist – während dieselbe Münze, sinnvoll in Afrika investiert, schließlich allen Seiten zugute kommt.

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