Politik Leitartikel: Karlsruher Ordnungsrufe

Die Europäische Zentralbank ist mächtig und von Parlamenten wie

Regierungen unabhängig. Europas Bürger bekommen direkt zu spüren,

was sie tut. Gerichte können der Bank auf die Finger schauen. Nur die EZB kann kurzfristig

und mit so viel Wirkmacht

in die Geldpolitik eingreifen.

Wer ist der mächtigste Mann in Europa? Es ist nicht Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, es ist auch nicht Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates. Der mächtigste Mann heißt Mario Draghi und ist Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Mit wenigen Worten stoppte er im Juli 2012 die Krise des Euro, den die Spekulanten gerade gefährlich in die Enge getrieben hatten: Er kündigte an, die EZB werde alles tun, was nötig ist, um den Euro zu retten. Basta. Seitdem versucht die EZB mit einer immensen Geldschwemme die Konjunktur im Euroraum anzukurbeln. Es sind Entscheidungen, die sich auf jeden europäischen Bürger auswirken. Auf seine Chance, einen Job zu finden. Aber auch auf sein Erspartes: Durch die seit Jahren anhaltende Niedrigzinspolitik haben Sparer viel Geld verloren. Die Renditen der Lebensversicherungen sind am Boden. Doch kein Bürger kann Draghi abwählen. Kein Parlament kann ihm dreinreden und keine Regierung. Dass das jetzt gerade viele Deutsche stört, könnte auf den ersten Blick verwundern. Die EZB ist nach dem Vorbild der Bundesbank erschaffen worden: eine unabhängige Notenbank, die den Versuchungen der Politik entzogen ist, durch das Drucken von Geld politische Fehler zu überdecken. Dieser Gedanke bleibt richtig. Mit der Finanzkrise aber ist die Geldpolitik für die Währung und sogar für das Überleben ganzer Staaten immens wichtig geworden. Nur die EZB kann kurzfristig und mit so viel Wirkmacht eingreifen. Fast zwangläufig regiert sie dabei in die Volkswirtschaften hinein – und saß in Griechenland gar direkt mit am politischen Hebel. Heute sitzen besonders viele Kritiker der EZB in Deutschland, und das hat mit dem Grundsatzstreit über die Bewältigung der Eurokrise zu tun, die auch eine Staatsschuldenkrise war. Kanzlerin Angela Merkel hat immer betont, dass Schulden nicht vergemeinschaftet werden dürfen. Draghi wird von seinen Kritikern vorgeworfen, genau das durch die Hintertür zu tun: Indem die EZB im großen Stil Staatsanleihen aufkauft – auch solche, die marode sind – betreibe sie verbotene Staatsfinanzierung und verteile die Risiken auf alle Euroländer. Ein europäischer „Finanzausgleich“ per Geldpolitik sozusagen. Schicken die Karlsruher Verfassungsrichter sich an, die Macht der EZB zu zerschlagen? Das wollen sie wohl kaum – und könnten es auch gar nicht. Nicht ein deutsches Gericht, sondern nur der Europäische Gerichtshof in Luxemburg kann die EZB zurechtweisen – allerdings könnte Karlsruhe im Extremfall die Bundesbank mit ihren dicken Geldtöpfen zurückpfeifen. Doch solche Extrem-Szenarien sind sehr unwahrscheinlich. Das aktuelle Aufkaufprogramm dürfte ohnehin schon ausgelaufen sein, bis ein Urteil dazu erfolgt. Wirkungslos sind die „Zweifel“, die Karlsruhe per Vorabentscheidung nach Luxemburg schickt, trotzdem nicht. Schon das erste Karlsruher EZB-Verfahren, das 2016 endete, brachte die Notenbank in argen Begründungszwang. Und auch wenn die Luxemburger Europarichter die Karlsruher Bedenken nicht teilten: Sie haben damals ihr Kontrollrecht über die EZB in klaren Worten festgeschrieben. Niemand kann daran interessiert sein, der europäischen Notenbank die Zähne zu ziehen. Sie wird gebraucht – und sie braucht auch ihre Unabhängigkeit. Allerdings hat die Krise sie in eine gefährlich politische Rolle gedrängt. Es ist gut, wenn jedenfalls die Luxemburger Richter ihr auf die Finger schauen. Dass sie das tun, genau dafür sorgen die Ordnungsrufe aus Karlsruhe.

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