Porträt Merkel wird 70: Die Kanzlerin der Kompromisse

Angela Merkel in Speyer: Bei der Trauerfreier für Helmut Kohl im Juli 2017 kam die damalige Bundeskanzlerin in die Domstadt.
Angela Merkel in Speyer: Bei der Trauerfreier für Helmut Kohl im Juli 2017 kam die damalige Bundeskanzlerin in die Domstadt.

Politik ist Sacharbeit, nicht Selbstdarstellung – diesem Credo folgte die frühere Bundeskanzlerin. Am Mittwoch wird sie 70 Jahre alt.

„Ich will, will groß sein, will siegen“, so sang einst Hildegard Knef in ihrem Lied „Für mich soll’s rote Rosen regnen“. Angela Merkel wünschte sich zum Abschied als Bundeskanzlerin unter anderem diesen Musiktitel, der im November 2021 beim Großen Zapfenstreich vom Stabsmusikkorps der Bundeswehr gespielt wurde.

Kämpferisch und lebensbejahend klingen diese Zeilen. Und in Erinnerung bleibt vor allem dieses „Ich will“, das viele politische Gegner – und auch Freunde – bei den Begegnungen mit Merkel gespürt haben müssen. Das Durchsetzungsvermögen der evangelischen Pfarrerstochter war enorm. Aber im Gegensatz zur Diva Knef wirkt Merkel bis heute bescheiden und bodenständig. Politik war für sie in erster Linie Sacharbeit, nicht Selbstdarstellung.

Am Denkmal Kohl gekratzt

Die Deutschen schätzten das und haben Angela Merkel vier Mal bei Bundestagswahlen zu einer Kanzlermehrheit verholfen. Erst im letzten Drittel ihrer 16 Jahre währenden Amtszeit schlägt ihr Hass entgegen, zuerst in der Flüchtlingskrise, dann in der Corona-Pandemie. Bei ihrer letzten Rede appellierte sie an die Menschen, die Welt immer auch mit den Augen der anderen, der Schwachen, zu sehen.

So nüchtern wie sie am Ende die Pandemie bekämpfte, so rational konstruierte die Physikerin ihren Aufstieg. Im Dezember 1999 wählt Merkel den Weg über einen offenen Brief an ihre Partei, die trotz des aufgedeckten Spendenskandals immer noch an ihrem Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl hing. Merkel, damals Generalsekretärin der Partei, fordert in einem Namensartikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ kühl und eindeutig die Abkehr der Union von Kohl, der die Partei in eine Glaubwürdigkeitskrise gestürzt habe. „Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. (…) Die Partei muss also laufen lernen“, schreibt sie.

Sie schreibt ihre Memoiren

Nach einem Schockmoment in der CDU ist Merkel die Frau der Stunde. Die Politikerin, die in der DDR sozialisiert wurde, bietet dem Kanzler der Einheit die Stirn. Das traute sich bis dahin niemand. Im Jahr darauf wird sie Parteivorsitzende. Die männliche Nachwuchsriege – Roland Koch, Christian Wulff, Friedrich Merz und andere – hat das Nachsehen.

Man darf gespannt sein, wie Merkel diese Station auf ihrem Lebensweg selbst beurteilt. Ihre Memoiren unter dem Titel „Freiheit. Erinnerungen 1954 bis 2021“ erscheinen im Herbst. Auf 700 Seiten will sie sowohl von 35 Jahren in der DDR als auch von 35 Jahren in der Bundesrepublik erzählen. Man wird nachlesen können, wie aus dem disziplinierten und fleißigen „Mädchen“ (Kohl) irgendwann die gelegentlich undurchschaubare, aber gleichwohl beliebte „Angie“ wurde, die ihre durchaus schwierigen Koalitionsregierungen vor allem durch eine Fähigkeit zusammenhielt: Sie konnte Konsens herbeiführen und Kompromisse schmieden.

Die „angelernte“ Bundesdeutsche

Merkel war die erste und bisher einzige Frau an der Spitze einer Bundesregierung und die erste Person aus Ostdeutschland, die ins Kanzleramt einzog. Während ihrer gesamten Kanzlerschaft begleitete sie der Vorwurf, sie sei wegen ihrer Herkunft nur eine „angelernte“ Bundesdeutsche, was sie sehr verletzte. Dass eine Karriere wie die ihre machbar war und dass sie zeitweise als die mächtigste Frau der Welt galt, mag ihr Genugtuung verschafft haben. Eine Zäsur in ihrer Amtszeit war die Flüchtlingskrise 2015. Als Merkel grünes Licht für die Aufnahme von in Ungarn gestrandeten Menschen gibt, kommen erst Zehn-, dann Hunderttausende nach Deutschland. Die anfängliche Hilfsbereitschaft schlägt bald um. Als „Volksverräterin“ wird die Kanzlerin jetzt beschimpft. Bei ihrer Sommerpressekonferenz im August 2015 stellt sich Merkel gegen die Wut vieler Bürger mit den knappen Worten: „Wir schaffen das.“

Keine „Klimakanzlerin“

Merkels nachlässiger Umgang mit den Unzufriedenen und deren Sammelbecken, die AfD, sollte sich rächen. 2017 zieht die rechtsnationale Partei in den Bundestag ein. Was den Blick auf weitere Versäumnisse Merkels lenkt: Die Modernisierung des Landes, die Ertüchtigung der Infrastruktur und die Digitalisierung wurden als Ziele von ihr aus den Augen verloren.

Auch mag man im Rückblick so etwas wie Opportunismus in Merkels Regierungshandeln erkennen: So kassierte sie mit ihrem Regierungspartner FDP 2010 den Atomausstieg der rot-grünen Vorgängerregierung, um ihn 2011 nach Fukushima ohne echte Not wieder in Kraft zu setzen. Ihre zögerliche Haltung bei den erneuerbaren Energien widersprach ihrem Anspruch, eine „Klimakanzlerin“ zu sein, wie sich Merkel zu Beginn ihrer Amtszeit gerne nennen ließ.

Wenn es um ihre Macht ging, war die CDU-Politikerin allerdings unübertroffen. Mit ihrem schlichten wie genialen Ausspruch „Sie kennen mich“ im weitgehend inhaltsleeren Wahlkampf gegen Peer Steinbrück (SPD) 2013 schuf sie mit drei Worten Vertrautheit und Sicherheit. Es war die Versicherung, dass alles so bleibt, wie es ist – mit Ausnahme der wechselnden Farben ihrer Blazer.

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