Meinung Nicht nur das Militär in Europa muss kriegstüchtig werden – auch die Gesellschaft

 75-Jahr-Feier der Nato in Washington: Generalsekretär Jens Stoltenberg betritt die Bühne.
75-Jahr-Feier der Nato in Washington: Generalsekretär Jens Stoltenberg betritt die Bühne.

Die Nato sichert seit 75 Jahren den Frieden. Europa hat sich in dieser Zeit hinter den USA versteckt, das könnte bald ein Ende haben. Die Weltordnung hat sich verschoben, das verlangt nach einem eigenständigeren Europa.

Die Nato lebt von der Angst vor einem Krieg. Das Ziel der Allianz ist es aber nicht, Krieg zu führen, sondern einen Krieg zu verhindern. Diese defensive Haltung ist der Markenkern des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Seit ihrer Gründung vor 75 Jahren ist die Nato für ihre Mitglieder ein Garant für den Frieden und die Freiheit. Europa verdankt der Allianz auch den ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung nach dem zerstörerischen Inferno des Zweiten Weltkrieges.

Die große Stärke der Nato ist aber nicht nur ihre militärische Kampfkraft. Die Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, im Falle eines Angriffes einander beizustehen. Allein diese Beistandsklausel hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin bisher abgehalten, die Staaten im Baltikum mit Krieg zu überziehen. Das zeigt, dass die Abschreckung wirkt. Die Nato will nicht Krieg führen, aber sie ist bereit, Krieg zu führen. Das ist die zentrale Botschaft an Russland nach dem Überfall auf die Ukraine – und sie scheint für den russischen Kremlherrscher sehr glaubhaft.

Auch von innen drohen der Nato Gefahren

Die Allianz hat ihre ureigene Aufgabe beim ersten wirklichen Stresstest in Europa mit Bravour erledigt. Doch inzwischen wird immer deutlicher, dass der Feind des Bündnisses nicht nur an den Außengrenzen steht. Auch von innen drohen große Gefahren. So beteiligen sich nicht alle Staaten in Europa an der Hilfe für die Ukraine in gleichem Maße. Und am Ende steht die bange Frage, wie viel die Beistandsklausel wirklich wert ist, die die große Stärke der Nato ausmacht. Würde Portugal tatsächlich Soldaten nach Lettland schicken, um das kleine Land im fernen Baltikum gegen einen massiven russischen Angriff zu verteidigen? Und welche Rolle Ungarn im Ernstfall spielen würde, ist inzwischen mehr als unklar. Und was geschieht, wird im November Donald Trump erneut ins Weiße Haus gewählt? Im Kreml dürften dann die Sektkorken knallen. Die Gefahr ist sehr real, dass die USA bereit sein könnten, Europa in dieser bedrohlichsten Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg den Rücken zu kehren. Angesichts der Verschiebung der Weltordnung mit dem Aufstieg Chinas werden sich die USA militärisch verstärkt auf den pazifischen Raum konzentrieren.

Europa muss sich auf diese Entwicklung vorbereiten. Es wäre gefährlich, sich in Sicherheitsfragen weiter hinter den USA zu verstecken, wie es im Moment im Fall der Ukraine passiert. Die Europäer müssen sich auf alles vorbereiten – auch dass Russland große Teile der Ukraine behält. Daraus würde kein Frieden erwachsen, sondern eine Art Dauerkrieg. Die imperialen Gelüste des russischen Präsidenten wären nicht gestillt. Europa muss sich für dieses Szenario wappnen.

Wissen, was es heißt, wenn Sirenen heulen

Das heißt nicht nur, dass das Militär wesentlich besser ausgerüstet werden muss. Die Gesellschaft steht ebenfalls vor großen Herausforderungen – auch sie muss kriegstüchtig werden. Das ist ein erschreckender Gedanke, aber er muss durchgespielt werden. Schon jetzt versuchen feindliche Hacker, die Infrastruktur eines Landes anzugreifen. Das heißt, die Stromversorgung kann ausfallen oder Kommunikation zusammenbrechen.

Die Gesellschaft muss wissen, was es heißt, wenn Sirenen heulen. Nur dann kann sie in der Gewissheit leben, dass der Frieden auch in schwierigen Zeiten gesichert ist.

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