Kiew Offensive der Ukraine: Was über Erfolge und Rückschläge bekannt ist

Ein ukrainischer Soldat feuert einen Granatenwerfer auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.
Ein ukrainischer Soldat feuert einen Granatenwerfer auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.

Der ukrainische Präsident schwört sein Land nach „Erfolgen“ bei der Offensive gegen die russischen Besatzer auf einen Sieg ein. Aber die Verluste sind hoch.

Seit Tagen hissen ukrainische Streitkräfte immer wieder stolz die blau-gelbe Flagge in den von der russischen Besatzung befreiten kleinen Ortschaften. Von sechs Dörfern im Gebiet Donezk und einem Ort im Gebiet Saporischschja spricht Kiew. Mehr als 90 Quadratkilometer insgesamt. Es sind die ersten psychologisch wichtigen Erfolge, die in Kiew ein sichtlich müder Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft verkündet. Kämpferisch verspricht er: „Wir glauben an den Sieg, er wird kommen!“

Ungewohnt kleinlaut dagegen Kremlchef Wladimir Putin, der am Montag verletzte Soldaten im Krankenhaus besuchte und auszeichnete. Auf seine Standardsätze wie „Der Sieg wird unser sein“ oder „Alles läuft nach Plan“ verzichtete er. Putin lässt vielmehr immer wieder auch Wohnhäuser in der Ukraine bombardieren. In der südöstlichen Großstadt Krywyj Rih starben bei einem Raketenangriff mindestens zehn Menschen.

Doch Selenskyj betont seit Tagen, dass weder Raketen noch die Flut durch die Zerstörung des Staudamms im umkämpften Gebiet Cherson die Ukraine von ihrer Großoffensive abbringen lasse. Deren Hauptteil hat dem Vernehmen nach noch nicht begonnen. Selenskyj hätte auch gern mehr Waffen vom Westen gehabt, darunter Kampfjets vom Typ F-16. Aber er meinte, die Offensive könne nicht noch Monate warten. Selenskyj spricht von einem „harten Kampf“ – auch weil Regen im Moment die Böden aufweicht. Schweres Militärgerät kommt so kaum voran.

Von einem Durchbruch kann keine Rede sein

Zwar liegt die Initiative nach tagelangen Offensivhandlungen des ukrainischen Militärs ganz klar bei Kiew; Moskau und die russische Armee sind in der Defensive. Aber noch sind Kiews Truppen nach Einschätzung von Experten nicht an die Hauptverteidigungslinie der Russen vorgedrungen. Die Ukraine versucht, mit taktischen Operationen in dem verminten Gebiet an die gut gesicherten Linien der Russen vorzustoßen, Schwachstellen zu finden, um dort einzubrechen.

Von einem Durchbruch könne bisher aber keine Rede sein, stellen Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) fest. Erschwert würden die ukrainischen Vorstöße auch durch die russische Dominanz im Luftraum. Die Ukrainer erlitten Verluste gegen einige „der am besten vorbereiteten russischen Streitkräfte“, heißt es in der ISW-Analyse. „Das russische Militär bleibt gefährlich, und die ukrainischen Truppen sehen sich einem harten Kampf ausgesetzt.“ Trotzdem sei die Front – nach russischen Angaben 815 Kilometer lang – nicht überall gleich stark gesichert.

„Da erblasst sogar Baron Münchhausen“

Die Ukraine stellt sich auf einen langen Kampf ein – wie auch Russland. Zwar hat Kiew nach Angaben des russischen Präsidenten Putin bereits ein Viertel der gelieferten westlichen Waffen verloren und zehnmal so hohe Verluste wie die russischen Truppen erlitten. Und auch das Verteidigungsministerium in Moskau meldet nur Erfolge und will alle Angriffe abgewehrt haben. Russische Feldkommandeure und Militärblogger sprechen hingegen von schweren Gefechten – mit Verlusten auf beiden Seiten.

Der Chef der Söldnereinheit Wagner, Jewgeni Prigoschin, ist seit Monaten im Streit mit dem russischen Verteidigungsministerium und hat auch für die verkündeten gigantischen Abschusszahlen der Behörden nur Spott übrig. Als diese vor einer Woche bereits den Abschuss von acht Leopard-Kampfpanzern verkündete, kommentierte er nur sarkastisch: „Da erblasst sogar Baron Münchhausen vor Neid.“ Wenn es so weitergehe, kämpfe Russlands bald mit Aliens.

Inzwischen gibt es tatsächlich erste bestätigte Abschüsse von Leoparden. Dennoch sei es für eine reale Einschätzung des Kampfgeschehens zu früh, so Prigoschin. Die Reserven der Ukrainer seien groß, ihr Angriffspotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. „In einem, anderthalb oder zwei Monaten können wir feststellen, ob sie ein Resultat erzielt haben oder nicht“, sagte er am Dienstag.

Russland könnte Mobilmachung fortsetzen

Insgesamt sehen sich die Russen immerhin besser durch die erste Woche der ukrainischen Offensive gekommen als befürchtet. Der auf russischer Seite kämpfende Feldkommandeur Alexander Chodakowski, der Moskau widersprochen und erste Erfolge der Ukrainer an der Front bestätigt hatte, betonte, es sei den Russen gelungen, einen Durchbruch zu verhindern. „Die Gefechte der letzten Tage haben gezeigt, dass der Feind frustriert wird und einbricht, wenn wir hartnäckig bleiben.“

Der Ultranationalist und frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin warnte allerdings vor Euphorie. Die Offensive stehe erst am Anfang. „Der Gegner hat etwa ein Drittel seiner strategischen Reserven eingesetzt“, schrieb er in seinem Telegram-Kanal. Die russische Führung werde spätestens im Herbst zu einer neuen Mobilmachung gezwungen sein, wenn nicht eine militärische Niederlage im Gebiet Saporischschja schon im Sommer das Auffrischen der eigenen Kräfte nötig mache, meinte Girkin.

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