Politik Projekt Merkel IV

Irgendwann in den vergangenen Tagen hat sich bei Angela Merkel der Knoten gelöst. War sie bis dato übellaunig und schmallippig unterwegs, wirkt sie seitdem leutselig und – auch das kann sie – witzig. Es ereignete sich zu einem Zeitpunkt, da Merkel klar geworden war, es könne wohl kaum noch etwas schiefgehen bei ihrer nunmehr vierten Wahl zur Bundeskanzlerin. Einige Gegenstimmen – das ist eingepreist. Merkel ist klar, dass sie längst nicht mehr alle Christdemokraten hinter sich versammelt weiß. Aber es wird eine Mehrheit, es wird eine weitere Amtszeit geben. Das allein zählt. Am Vorabend ihrer Wahl platzt also die heiter gestimmte Kanzlerin in die Sitzung der SPD-Fraktion und hält eine launige Rede. „Total entspannt“ sei sie gewesen, ja irgendwie auch lustig, erzählen die, die dabei waren. Gestern, kurz vor neun Uhr, schnürt Merkel im cremefarbenen Blazer lächelnd durch die Reihen des Bundestages und hält Schwätzchen mit jedem, der sich ihr zuwendet. Sie scherzt mit SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, lacht mit Claudia Roth von den Grünen, schüttelt Bald-Außenminister Heiko Maas die Hand. Und irgendwann – nach vielem Schulterklopfen und Rückentätscheln – steht sie neben Martin Schulz, der in einer der hinteren SPD-Reihen Platz genommen hat und sich bis dahin mit dem Parteilinken Matthias Miersch unterhalten hatte. Miersch war kurze Zeit als Umweltminister im Gespräch. Merkel und Schulz wissen, dass nun viele Augen und Kameras auf sie gerichtet sind. Die Unterhaltung ist daher eine kleine Show. Man spricht angeregt miteinander, Schulz lächelt, nickt, gestikuliert. Es wirkt nett, was sich da abspielt, versöhnlich. Schulz war es, der für die SPD den Weg in die große Koalition ebnete. 24 Stunden am Stück haben er und Merkel am Ende der Koalitionsverhandlungen gerungen – der damalige SPD-Vorsitzende trotzte der CDU-Chefin sechs Ministerien ab. Nur für kurze Zeit war Schulz dann designierter Außenminister, am Ende musste er einsehen, dass sein Traum an seiner mangelnden Glaubwürdigkeit zerschellte. Er musste verzichten, um nicht das Ja der SPD-Mitglieder zu gefährden. Schulz hatte vor kurzem erklärt, er werde Merkel zur Bundeskanzlerin mitwählen. Offenbar hat sie ihm im Bundestag dafür Dankeschön gesagt. Dann geht wieder jeder seines Weges. Schulz muss zur Wahlurne, sein Name ist aufgerufen. Später reiht er sich ein in die Schar der Merkel-Gratulanten. Ein anderer Verlierer dieses Koalitionskrimis ist nur kurz sichtbar: Sigmar Gabriel. Merkel und der bisherige Außenminister begegnen sich im Plenum eher zufällig. Die Kanzlerin deutet nach oben zur Tribüne, wo ihre Mutter Herlind Kasner und Joachim Sauer sitzen, Merkels eher medienscheuer Ehemann. Der Wissenschaftler schaut kurz von seinem Laptop auf. Gabriel lächelt beiden zu, aber man kann an seinem Gesicht keine Stimmung ablesen. Es ist bezeichnend, dass er nach der Stimmabgabe das Plenum verlässt und nicht mehr gesehen wird. Beide, Schulz und Gabriel, sind nur noch einfache Abgeordnete. Ob sie es lange bleiben werden oder zu neuen Ufern aufbrechen – wer weiß. Als das Ergebnis bekannt gegeben wird, weiß Merkel, dass ihre Mehrheit nicht allzu komfortabel ist: Neun Stimmen mehr als von der Verfassung verlangt und etliche Nein-Stimmen aus dem Koalitionslager – das ist ein Ergebnis, das man in der Politik wohl „ehrlich“ nennt. Aus Unionskreisen ist zu hören, dass sich das Misstrauen gegenüber Merkel, das sich seit der Flüchtlingskrise aufgebaut hat, nun in Nein-Stimmen ausgedrückt hat. Bei der SPD beteuert man nicht ohne eine gewisse Portion Schadenfreude, „geschlossen“ votiert zu haben. Doch niemand kann das überprüfen. Die Wahl ist geheim, und wer sie öffentlich macht, wird bestraft. So wie der AfD-Abgeordnete Petr Bystron, der ein Ordnungsgeld von 1000 Euro zahlen muss, weil er seinen Wahlzettel, auf dem er „Nein“ angekreuzt hatte, fotografiert und das Bild bei Twitter veröffentlicht hat. Überhaupt die AfD: Sie zeigt ein derart demonstratives Desinteresse an dem ganzen Wahlvorgang, dass es schon unfreiwillig komisch wirkt. Ihre Protagonisten stapfen mürrisch durch den Saal, und am Ende, als alle Merkel gratuliert haben, bequemen sich die Fraktionschefs Alexander Gauland und Alice Weidel doch noch zur Kanzlerin für einen flüchtigen Händedruck. Die fraktionslose Ex-AfD-Abgeordnete Frauke Petry ist da anders. Sie schenkt Merkel sogar ein Buch über abgehobene Politiker, das die Kanzlerin mit einem flinken Griff so auf ihrem Pult platziert, dass niemand den Titel lesen kann. Am zweiten Schauplatz dieses Tages, dem Schloss Bellevue, geht es fast schon routiniert zu. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ernennt zuerst Merkel zur Kanzlerin, sagt aber nicht viel („später mehr“). Bei der Ernennung der Minister des Bundeskabinetts wirbt er dafür, dass diese Regierung – obwohl von den gleichen Parteien getragen wie in der vorigen Wahlperiode – einen Vertrauensvorschuss verdiene. Er mahnt: „Ein schlichter Aufguss des Alten genügt aber nicht.“ Und er appelliert an Bürger und Politiker, den Anfechtungen, denen die Demokratie derzeit ausgesetzt ist, mutig entgegenzutreten. Ohne die AfD zu nennen, sagt Steinmeier, die Debattenkultur kenne Grenzen, die nicht nur das Grundgesetz, „sondern auch menschlicher Anstand und Respekt“ zögen. Was folgt, ist ein formaler, wenngleich feierlicher Akt: „So wahr mir Gott helfe!“, sagt Angela Merkel in das „Vereidigungsmikrofon“ und ist seitdem wieder Kanzlerin. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wünscht ihr „Kraft und Gottes Segen für diese große Aufgabe.“

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