Leitartikel Ukraine-Krieg: Putins Hunger nach mehr

Ukrainische Mutter vor dem Grab ihres Sohnes.
Ukrainische Mutter vor dem Grab ihres Sohnes.

Die Menschen in der Ukraine haben viel erduldet. Sie sind erschöpft, denn der Krieg tobt in ihrem Land, und nicht in Russland. Das Gesprächsangebot Kiews an Moskau ist daher verständlich, birgt aber große Risiken.

Was Ukrainerinnen und Ukrainer in den vergangenen knapp zweieinhalb Jahren haben erdulden müssen, können wir im friedensverwöhnten Deutschland gar nicht nachvollziehen. Kinder, die in U-Bahn-Schächten zur Schule gehen oder seit Jahren online unterrichtet werden, ohne Kontakt zu Klassenkameraden und Freunden. Menschen, die ihr Haus, ihren Betrieb verloren haben, zerstört durch russische Luftangriffe, und die jetzt um ihre Existenz bangen müssen. Alles was sie in ihrem Leben aufgebaut und erarbeitet haben, ist weg. Hochbetagte Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten – ohne Aussicht, sie jemals wiederzusehen.

Und nicht zuletzt die vielen Toten: Soldaten und Zivilisten, junge Männer und alte Frauen, Kinder und Babys. Kaum eine Familie, die keine Opfer zu beklagen hat. Viele Männer und Frauen sind schon seit Kriegsbeginn an der Front. Denn anders als der Gegner Russland hat die ukrainische Militärführung kein fast unerschöpfliches Reservoir an Soldaten, die sie wie der Kreml verheizen kann. Sie will das auch gar nicht.

Russen belügen sich selbst

Da ist es kein Wunder, dass die Ukrainer kriegsmüde sind. Denn die Kämpfe toben in ihrem Land, nicht in Russland. Anders als der Kreml hält sich die ukrainische Führung an internationale Vorgaben und bombardiert keine Wohnsiedlungen und Krankenhäuser. Auch dadurch befindet sie sich gegenüber dem Aggressor Russland in der schwächeren Position. Denn im Gegensatz zu den Russen, die sich immer noch vormachen, die „Spezialoperation“ von Präsident Wladimir Putin sei eine Art Polizeiaktion zum Aufrechterhalten der Ordnung in der Ukraine, erleben die Menschen dort Tag für Tag den blutigen Terror des Krieges.

Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nun eine Verhandlungsoption mit dem Kreml ins Spiel gebracht hat, zeitgleich mit den Gesprächen seines Außenministers Dmytro Kuleba in China, zeigt, dass der innenpolitische Druck auf die Regierung in Kiew wächst. Zweifellos ist es für die Ukrainerinnen und Ukrainer immer noch eine Horrorvorstellung, dass – nach allem, was sie erduldet und geopfert haben – Russland womöglich den Osten ihres Landes schluckt. Aber sie sind ausgelaugt vom Krieg. Viele Familien sind seit Monaten, gar Jahren getrennt, weil der Vater an der Front und die Mutter mit den Kindern im Ausland ist. Sie sind aber auch enttäuscht von der anfangs sehr zögerlichen Unterstützung des Westens und den für sie nur schwer nachvollziehbaren Beschränkungen, die ihnen beim Einsatz von Waffensystemen auferlegt werden. Warum dürfen die Russen unsere Kliniken bombardieren, wir aber nicht einmal deren Raketen-Abschussrampen, fragen sie sich.

Horrorvorstellung US-Präsident Trump

Die Horrorvorstellung, der US-Präsident könnte in nächsten Jahr Donald Trump heißen, tut ein übriges. Dass von dem sprunghaften, von Weltpolitik und den komplizierten internationalen Beziehungen völlig unbeleckten Putin-Bewunderer irgendeine Unterstützung für ihr gebeuteltes Land zu erwarten sein wird – so naiv sind die Ukrainer nicht, um das zu hoffen.

Die Gesprächsbereitschaft Kiews ist aus der Not geboren. Und sie birgt große Risiken. So pocht der Kreml weiter auf eine „Entnazifizierung“ der Ukraine. Im Klartext: In Kiew soll eine Marionettenregierung von Putins Gnaden installiert werden. Der Kreml-Chef, der nach innen repressiv und nach außen aggressiv agiert, hat zudem in der Vergangenheit oft genug bewiesen, was ihm Verträge und internationale Vereinbarungen wert sind: nichts. Und auch sein territorialer Hunger konnte bisher in keiner Weise durch Zugeständnissen gestillt werden.

Zerstörtes Wohngebiet in Carkiw in der Ostukraine.
Zerstörtes Wohngebiet in Carkiw in der Ostukraine.
Gedenkmauer für die Gefallenen in Kiew.
Gedenkmauer für die Gefallenen in Kiew.
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