Politik Warum Franzosen auf dem Land nicht wählen wollen

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Frankreich verstehen: Die französische Provinz will von Paris nichts mehr wissen. Viele der auf dem Land lebenden Franzosen fühlen sich vom Fortschritt abgekoppelt. Bei den Präsidentschaftswahlen bleiben sie zu Hause oder wählen die Rechtspopulistin Marine Le Pen. So wie in Vendœuvres, einem kleinen Ort im zentralfranzösischen Département Indre.

Sie steigt aufs Fahrrad, wendet kurz den Kopf, deutet ein spöttisches Lächeln an. „Vendœuvres ist tot“, sagt sie, „hier läuft rein gar nichts“. Mehr ist der 16-Jährigen nicht zu entlocken. „Wenn ich mit der Schule fertig bin, ziehe ich weg“, schiebt sie noch nach und tritt in die Pedale. Wer durch die Straßen des 1200 Einwohner zählenden Dorfes flaniert, mag den vernichtenden Befund nicht teilen. Anderen Gemeinden des zentralfranzösischen Départements Indre würde man bereitwillig den Totenschein ausstellen. Doch Vendœuvres hat, was so manchem Weiler fehlt: ein Postamt, eine Arztpraxis, zwei Metzgereien, einen Bäcker, ein Café, das zugleich auch Bar ist. Und wenn man dann noch Jean Guignedoux trifft, der mit 75 Jahren mitten im Leben steht, mag man gar zu dem Schluss gelangen: Das von Sozialwissenschaftlern und Meinungsforschern entworfene Bild einer vom Fortschritt abgehängten Landbevölkerung, die den Eliten zürnt, sich an Wahlsonntagen verweigert oder für die Rechtspopulistin Marine Le Pen stimmt, ist wohl nichts weiter als ein Klischee. Guignedoux zieht sich keineswegs frustriert zurück. Zeitlebens hat er sich gesellschaftlich engagiert. Bis zur Pensionierung war er Lehrer, Direktor und Kantinenwirt der vier Klassen zählenden Grundschule des Ortes. Parteiunabhängiger Gemeinderat, Verwalter der örtlichen Mediathek, Vorsitzender des Sport- und Angelvereins ist er noch heute. Der gutmütige, leicht melancholische Blick des Mannes signalisiert: Es geht ihm nicht um die Macht im Dorf, sondern um ein gedeihliches Miteinander. Und natürlich nimmt er Anteil an der Politik, verfolgt den Vierkampf um den Einzug in den Elysée-Palast. Da erhebt sich die Frage, wer aus diesem Quartett – neben Marine Le Pen der sozialliberale Emmanuel Macron, der konservative François Fillon und der Linksaußen Luc Mélenchon – am überzeugendsten die Interessen des ländlichen Raums vertritt. Guignedouxs Antwort ist ernüchternd. „Keiner von ihnen“, sagt er. „Ich gehe am nächsten Sonntag nicht wählen, und die meisten anderen hier auch nicht.“ Wer in Paris die Macht ergreife, sei für den vom Fortschritt abgekoppelten ländlichen Raum vollkommen egal. „Ob in der Politik oder in der Wirtschaft, wir bedeuten denen da oben doch nichts“, setzt Guignedoux nach. Seine Mitbürger scheinen zum selben Schluss gelangt zu sein. Martine, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung sehen will, erwartet „rein gar nichts“ vom neuen Staatsoberhaupt. Mit einer Baguette unter dem Arm strebt die ehemalige Besitzerin eines Antiquitätengeschäfts dem heimischen Mittagstisch entgegen. „Wir rechnen hier mit mehr als 50 Prozent Enthaltung“, sagt Martine. Von den abgegebenen Stimmen werde der Löwenanteil auf Marine Le Pen entfallen, die Chefin des Front National (FN). Sie sei bei den Wahlen 2012 bereits auf 25 Prozent gekommen, sieben Punkte über dem landesweiten Durchschnitt. Romain Berroyer, der die Dorfärztin über Ostern vertritt, sieht das ähnlich. Die Leute fühlten sich von den Mächtigen im Stich gelassen, stimmten in Scharen für die fremdenfeindliche Chefin des Front National, versichert der 30-jährige Mediziner. Dabei hätten die meisten in ihrem Leben nicht einen Immigranten zu Gesicht bekommen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Bei einem weiteren Rundgang durchs Dorf wird deutlich: Auch wenn der Ort noch lebt, er wächst und gedeiht nicht mehr. Verfallene Gehöfte künden von fortschreitendem Niedergang. Das einst fast ausschließlich Kleinbauern beherbergende Dorf zählt heute noch rund ein Dutzend landwirtschaftliche Betriebe. Der Investmentfonds China Hongyang nutzt die Gunst der Stunde, kauft in Vendœuvres und Umgebung Ackerland auf. Rund 1700 Hektar haben den Besitzer gewechselt. Die Investoren setzen darauf, dass China in wachsendem Ausmaß auf Getreideimporte angewiesen sein wird. Christophe Vandaele mag der Veräußerung keine große Bedeutung beimessen. Der parteilose Bürgermeister von Vendœuvres spricht von einem „Geschäft zwischen Privatleuten“, das den Staat nichts angehe. Die Chinesen würden schließlich nicht mit Baggern anrücken, Erdreich abtragen und ins Reich der Mitte schaffen. Vandaeles Kollege Michel Hétroy der die Geschicke der Nachbargemeinde Châtillon-sur-Indre bestimmt, sieht das anders. Er beklagt einen „Ausverkauf der Heimat“. Marine Le Pen dürfte der gleichen Ansicht sein. Sie beschuldigt die Eliten, vor der Globalisierung die Waffen zu strecken und das Volk ausländischen Geschäftemachern auszuliefern. Der Bahnhof von Vendœuvres ist zwar noch da, eine Bahnhofsstraße gibt es ebenfalls. Aber der Zugverkehr ist längst eingestellt. Der Linienbus nach Châteauroux, die 30 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt, ist ebenfalls Vergangenheit. Busfahrten gibt es für die Dorfbewohner nur noch auf Bestellung. Am Vortag der Reise ist das Gesuch einzureichen. Das Postamt öffnet ganze zweieinhalb Stunden täglich, bevor es in zwei Jahren dicht machen wird. „Le Petit Parc“, das Restaurant, ist schon jetzt „endgültig geschlossen“. Brigitte Lamarque, die Ärztin, hat das Pensionsalter erreicht. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Gewiss, Lamarque will durchhalten. An der Praxistür hat sie ein Schild aufgehängt. „Machen Sie sich keine Sorgen, noch gehe ich nicht in Rente!“ Aber die Betonung liegt eben auf noch. Und auch wenn der Ort besser dran ist als andere ländliche Gemeinden, politisch ist der Trend derselbe. Die Dorfbewohner rücken nach rechts. Jérôme Fourquet vom Meinungsforschungsinstitut Ifop hat nachgewiesen, dass der Front National auf dem Land mit jeder schwindenden Serviceleistung Zulauf erhält. Ob Post, Lebensmittelgeschäft, Bank oder Restaurant: Geschäftsaufgaben bescheren den Rechtspopulisten Stimmen. Wobei die Schließung eines Postamts am traumatischsten erlebt wird. Sie stehe sinnbildlich für die Abkoppelung vom Rest des Landes, glaubt Fourquet. Der Geograf Christophe Guilluy, Autor zahlreicher Bücher über sich in der französischen Gesellschaft öffnende Gräben, hat im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Alarm geschlagen. Guilluy appelliert an Frankreichs Regierende, massiv in vom Fortschritt abgehängte Landesteile zu investieren: in verrufene Vorstadtgettos, von industriellem Niedergang gezeichnete Regionen und eben auch in den ländlichen Raum. Das verspreche zwar keinerlei unmittelbaren Gewinn, räumt der 52-Jährige ein. Es eröffne aber die Chance, dass die zerrissene Gesellschaft wieder zusammenwachse, Frankreich ein Abgleiten in Rechts- oder Linkspopulismus erspart bleibe. Anders als die Nutznießer offener Grenzen und digitalen Fortschritts glauben wollten, stellten die von der Moderne Abgekoppelten nicht eine Minderheit, sondern die über die politische Zukunft des Landes entscheidende Mehrheit der Bevölkerung, versichert Guilluy. Mit 60 Prozent beziffert er den Anteil derer, die Globalisierung vor allem als Gefahr begreifen, als Ursache für drohenden Arbeitsplatzverlust, als Immigration, die Frankreichs Integrationsprobleme verschärft. In dieser Serie sind bisher Beiträge über Frankreichs Parteien (5. April), die französische Protest- und Streitkultur (12. April) und die Kluft zwischen Volk und Eliten (16. April/RHEINPFALZ am Sonntag) erschienen. Auf der heutigen Kultur-Seite lesen Sie einen Artikel über die Rolle der Kultur in Frankreich. Der Autor Axel Veiel, Jahrgang 1953, berichtet seit dem Jahr 2005 für die RHEINPFALZ aus Paris. Zuvor war der studierte Jurist unter anderem Korrespondent in Spanien.

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