Georgien Zwischen Wahlbetrug und Massenprotest: Ein Land am Scheideweg

 Stände von Straßenkünstlern vor der Seilbahnstation in Tiflis.
Stände von Straßenkünstlern vor der Seilbahnstation in Tiflis.

Nach Europa oder zurück Richtung Russlands: Die Parlamentswahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik gelten als Volksabstimmung über den künftigen Weg des Landes.

Nein, er werde nicht wählen gehen. Der Straßenkünstler Sosso hat über 40 Bilder auf die Treppen vor dem Säulengang zur Tifliser Seilbahn ausgelegt, naive Kunst, bunte Kindergestalten mit großen Augen. Sosso macht ein grimmiges Gesicht. „Diese Regierung bekommt meine Stimme nicht“, schimpft er. „2000 Lari Standgebühren (rund 700 Euro) verlangen sie von mir.“ Sosso, 49, hat drei Kinder zu ernähren. „Ich bin Kriegsveteran. Dafür kriege ich 100 Lari Rente“, schimpft er. Will er nicht eine der Oppositionsparteien wählen? „Nein, ich fahre in die Berge. Diese Regierung“, wiederholt er, „kriegt von mir keine Stimme.“ Sosso macht wohl keinen Unterschied zwischen der Regierung und Georgiens Politik insgesamt.

An diesem Samstag wählen etwa 3,5 Millionen Georgier ein neues Parlament. Im Gegensatz zu Sosso betrachten die meisten Beobachter in Tiflis den Urnengang als schicksalhaft. „Es ist eine Volksabstimmung, ob die Georgier in der EU oder in Russland leben wollen“, schreibt der Telegramkanal Paper Karteli.

Diskrepanz bei Umfragen

Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ hat vergangenes Jahr einen dramatischen Kurswechsel gestartet: Weg vom liberalen Westen und einer Annäherung an die EU, zurück in Moskaus Arme. Im Frühjahr drückte ihre Mehrheit im Parlament das „Auslandsagenten“-Gesetz durch, das nach Ansicht der Opposition stark einem russischen Gesetz ähnelt, mit der Wladimir Putin 2021 gegen Zivilgesellschaft und Opposition vorging.

Milliardär Bidsana Iwanischwili, der starke Mann des „Georgischen Traums“, ließ in seinem jüngsten Fernsehinterview keinen Zweifel daran, dass er ähnliches anstrebt: „Feinde des Volks oder des Lands müssen verboten werden. Wir brauchen eine Verfassungsmehrheit, um die ,Nationalbewegung’ zu beseitigen.“ Die „Nationalbewegung“, die Partei des umstrittenen ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, ist eine der tragenden Oppositionskräfte.

„Verfassungsmehrheit“ bedeutet im georgischen Parlament 75 Prozent der Sitze. Die meisten Meinungsumfragen prophezeien Iwanischwilis „Traum“ aber maximal 35 Prozent der Stimmen. Während die Oppositionsparteien, die erklärtermaßen für die EU sind und wegen einer Fünf-Prozent-Hürde mehrere Wahlbündnisse gebildet haben, zulegen: „Die „Koalition für Veränderung“ kommt aktuell auf 19 Prozent, „Einheit – Nationalbewegung“ auf 16 Prozent, „Starkes Georgien“ auf neun Prozent und „Gacharia – Für Georgien“ auf acht Prozent. Das könnte für einen Machtwechsel reichen.

Dagegen prophezeit eine Umfrage, die der regierungsnahe TV-Kanal Imedi in Auftrag gegeben hat, dem „Georgischen Traum“ eine satte 60-Prozent-Mehrheit. Der Politologe und Medienmagnat Malchas Gulaschwili, der aufseiten Iwanischwilis steht, sagt der Partei sogar bis zu 65 Prozent voraus. „Umfrageresultate hängen davon ab, wer sie in Auftrag gegeben hat“, erklärt er die Kluft zwischen den Wahlprognosen.

Tausende Wahlbeobachter

Diese Kluft signalisiert auch, dass sich keine Seite mit dem Sieg der anderen abfinden wird. „Die Staatsmacht wird alle Mittel einsetzen, um ein Ergebnis zu erzielen, dass ihr passt“, sagt der Politologe Kacha Gogolaschwili von der Georgischen Stiftung für Strategische und Internationale Studien. Der „Traum“ sei psychologisch nicht bereit, eine Niederlage einzugestehen. Die Opposition befürchtet massiven Betrug, hat laut Gogolaschwili etwa 4000 Wahlbeobachter mobilisiert, die in allen Wahlkreisen Abstimmung und Auszählung kontrollieren wollen. Dazu kommen mehr internationale Beobachter als bei allen vorherigen Wahlen. „Aber es ist zu erwarten, dass die Behörden mit neuen Wahltricks aufwarten, die wir noch nicht kennen“, sagt Gogolaschwili .

Es drohen ein fragwürdiger Sieg des „Traums“ und danach heftige Straßenproteste der Opposition und ihres meist jugendlichen Anhangs. Die Wahllokale schließen gegen 18 Uhr MESZ. Danach wollen mehrere Nichtregierungsorganisationen im Stadtzentrum hunderttausend Leute versammeln, um einen Sieg Europas zu feiern. Es könnte aber auch die erste wütende Demo gegen das offizielle Wahlergebnis werden.

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