Rheinland-Pfalz Mordfall Kandel: Am Tattag ohne Betreuung

Blumenherz beim Trauergottesdienst für die getötete Schülerin am 11. Januar in der St. Georgskirche in Kandel.
Blumenherz beim Trauergottesdienst für die getötete Schülerin am 11. Januar in der St. Georgskirche in Kandel.

Kurz vor Beginn des Prozesses im Mordfall Kandel steht fest: Der beschuldigte Flüchtling war am Tagtag in seiner Neustadter Wohngruppe in entscheidenden Momenten ohne Betreuung. Niemand war da, um ihn aufzuhalten, als er nach Kandel fuhr. Dort erstach er seine Ex-Freundin, eine 15-jährige Schülerin, wenig später in einem Drogeriemarkt. Gab es Versäumnisse der zuständigen Behörden?

Das Landgericht Landau, das den Mordfall ab 18. Juni verhandelt, geht davon aus, dass der vermutlich aus Afghanistan stammende Beschuldigte zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war. Wie berichtet, hatte die Polizei am Tattag – der 27. Dezember 2017 – die Wohnung aufgesucht, in der seit September der Tatverdächtige mit drei anderen jugendlichen Flüchtlingen untergebracht war. Grund waren Anzeigen der Schülerin und ihres Vaters, die sie am 15. und 17. Dezember gegen den Beschuldigten unter anderem wegen Nötigung und Bedrohung erstattet hatten. Das Mädchen hatte zuvor eine mehrmonatige Beziehung zu dem afghanischen Flüchtling beendet, der zeitweise ein Mitschüler von ihr war. Der Abgewiesene hatte ihr danach laut Staatsanwaltschaft gedroht, „sie abzupassen und zu schlagen“. Inzwischen gibt es Hinweise, dass er auch zuvor bereits durch aggressives Verhalten auffiel. In dem Gespräch am 27. Dezember, das im Hausflur und nicht in der Wohnung selbst stattfand, hatte die Polizei dem Flüchtling angekündigt, dass er wegen der Anzeigen am 2. Januar auf der Polizeiinspektion Neustadt vernommen werden sollte. Bisher war unklar, ob zu diesem Zeitpunkt Betreuer in der Wohnung waren. Entsprechende RHEINPFALZ-Fragen hatte die für die Unterbringung des Flüchtlings zuständige Kreisverwaltung Germersheim nicht beantwortet. In der Dokumentation „Der Flüchtling und das Mädchen“, die am Montagabend in der ARD lief, sagte der Germersheimer Landrat Fritz Brechtel (CDU) jetzt jedoch, dass zum Zeitpunkt der Polizeibesuchs „weder Mitarbeiter des Jugendamtes noch Mitarbeiter des Freien Trägers anwesend waren“. Die Wohngruppe in Neustadt wurde von der Maikammerer Kinder- und Jugendhilfe „MIO“ betrieben. Die Jugendlichen seien dort von drei Bezugserziehern zusätzlich zum Schulunterricht „mit insgesamt 40 Wochenstunden im Direktkontakt betreut“ worden, hatte die Kreisverwaltung nach der Tat mitgeteilt. Dass es in der Zeit der Schulferien keine andere Regelung gab, hatte im Februar bereits das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung (Mainz) auf RHEINPFALZ-Nachfragen bestätigt. Nach Brechtels Aussage ist jetzt klar: Der Beschuldigte war tatsächlich ohne Betreuung, als er von der Polizei erfuhr, dass die Anzeigen seiner Ex-Freundin möglicherweise Konsequenzen für ihn haben können. Von den Anzeigen gegen den beschuldigten Flüchtling hatte das Jugendamt laut Kreisverwaltung am 18. Dezember erfahren, einen Tag später kam es zu einer internen „Einschätzung der Lage“ – an der Betreuungsintensität wurde indes nichts geändert – auch nicht für die Zeit der Schulferien. Landrat Brechtel sagte in der ARD-Sendung, die Polizei sei an jenem 27. Dezember „völlig unangemeldet“ gekommen. Normalerweise sei es in solchen Fällen „üblich“, dass der Vormund des Flüchtlings zuvor verständigt werde. Doch hätte der Vormund, ein Mitarbeiter der Kreisverwaltung Germersheim, an diesem Tag für eine Fahrt nach Neustadt Zeit gehabt? Er hatte 47 Vormundschaften zu bewältigen – die Obergrenze liegt bei 50 –, darunter waren 38 Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dazu kommt: Zwischen dem 18. und 27. Dezember war er zeitweise in Urlaub – am 20. und 21. Dezember. Für die Weihnachtsfeiertage sei vereinbart worden, „dass eine Rufbereitschaft im Telefonkontakt mit den Jugendlichen steht“, sagte gestern eine Sprecherin der Kreisverwaltung. Wenn das Erscheinen eines Mitarbeiters vor Ort erforderlich gewesen wäre, wäre dies jederzeit kurzfristig möglich gewesen. Das Polizeipräsidium Rheinpfalz will heute zu den Vorhaltungen Brechtels Stellung nehmen. Die Staatsanwaltschaft Landau hat den afghanischen Flüchtling wegen Mordes angeklagt, er soll seine frühere Freundin heimtückisch und aus niederen Beweggründen erstochen haben. Das Motiv sieht die Staatsanwaltschaft in der „übersteigerten Eifersucht“ des Tatverdächtigen. Wie gestern berichtet, schließt das Landgericht Landau aufgrund eines von ihm zusätzlich eingeholten Gutachtens nicht aus, dass der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt minderjährig war. Deshalb wird nach Jugendstrafrecht verhandelt; was heißt, dass die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen ist. Um dies sicherzustellen, ordnete das Gericht gestern strenge Sicherheitsauflagen an. Aufgrund eines ersten medizinischen Gutachtens und nach dem Ergebnis ihrer Ermittlungen war die Staatsanwaltschaft im Gegensatz zum Gericht davon ausgegangen, dass der Flüchtling zur Tatzeit „mit hoher Wahrscheinlichkeit um die 20, jedenfalls aber über 18 Jahre war“.

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