Rheinland-Pfalz Rheinland-Pfalz: Umstrittener Gutachter in Bußgeldstelle

Die meisten Fälle der Bußgeldstelle betreffen Tempoverstöße.
Die meisten Fälle der Bußgeldstelle betreffen Tempoverstöße.

Die Aufnahmen, die Blitzerkameras von Temposündern liefern, sind oft von mäßiger Qualität. Die Justiz setzt in solchen Fällen auch auf einen Fotovergleich, um den Fahrer zu identifizieren. Für die rheinland-pfälzische Bußgeldstelle ist dabei meist ein Gutachter tätig, der umstritten ist. Was sind dafür die Gründe? Die Spurensuche beginnt bei einem Bankraub im Jahr 1991.

«Zweibrücken». Der Fall von Donald Stellwag gehört zu den großen Justizirrtümern der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der frühere Hausmeister, der zeitweise mit einer Drückerkolonne Zeitschriftenabos in den neuen Bundesländern absetzte, saß sechs Jahre unschuldig im Gefängnis. Wie konnte es dazu kommen?

Fataler Justizirrtum

Angelastet worden war Stellwag ein Bankraub mit Geiselnahme, bei dem 1991 in Nürnberg 54.000 Mark erbeutet wurden. Vom Täter gab es – eher undeutliche – Aufnahmen, die von einer Überwachungskamera im Schalterraum der Bank stammten. Ausschlaggebend für die Verurteilung Stellwags war ein Vergleichsgutachten des Sachverständigen Cornelius Schott, der im Prozess vor dem Landgericht Nürnberg aufgrund der Fotos „keinerlei Zweifel“ an der Täterschaft Stellwags hatte. Im Februar 2001 hatte der damals 44-Jährige die Haftstrafe verbüßt. Wenig später stellte sich heraus, dass ein anderer der Täter war: Ein Krimineller aus Stuttgart gestand mehrere Überfälle, darunter auch den Bankraub 1991 in Nürnberg. Stellwag wurde im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen und verklagte anschließend den Sachverständigen, dessen fatale Schlussfolgerungen ihn in den Knast gebracht hatten. Das Oberlandesgericht Frankfurt bescheinigte Cornelius Schott eine „grob fahrlässige Fehlerhaftigkeit“ und verurteilte ihn 2007 zur Zahlung von 150.000 Euro Schmerzensgeld an Donald Stellwag.

Bußgeldstelle setzt auf Cornelius Schott

Für Stellwags Verteidiger, den Dortmunder Anwalt Erich Bäckerling, ist diese Entscheidung auch heute noch ein Meilenstein: „Das fulminante an dem Urteil war, dass es der erste Fall in der Nachkriegsgeschichte war, wo es zur Verurteilung eines Sachverständigen kam.“ Doch Cornelius Schott, ein promovierter Humanbiologe, ist als Gutachter weiter gut im Geschäft, unter anderem bei Bußgeldverfahren gegen Tempo- und Rotlichtsünder. Schwierig wird dort die Beweislage immer dann, wenn der Halter beim Verkehrsverstoß nicht der Fahrer gewesen sein will. Die zentrale Bußgeldstelle für Rheinland-Pfalz (Speyer) gab im vergangenen Jahr deshalb rund 350 Gutachten in Auftrag, um anhand eines Fotovergleichs – meist von Radaraufnahme und Passbild – den Fahrer zu identifizieren. Rund 80 Prozent dieser Aufträge gingen nach Angaben des Mainzer Innenministeriums an Cornelius Schott: Die Bußgeldstelle habe von den Gerichten und Staatsanwaltschaften keine Weisung erhalten, auf Schott als Gutachter zu verzichten. Warum er aber so auffällig häufig zum Zuge kommt, erklärt Ministeriumssprecher Joachim Winkler vor allem mit dem Zeitdruck durch die Verjährungsfrist von drei Monaten, die bei solchen Verkehrsdelikten gilt: Dies habe in der Vergangenheit dazu geführt, dass aufgrund der begrenzten Anzahl möglicher Ersteller solcher Vorgutachten „und der kurzfristig notwendigen Verfügbarkeit im Einzelfall Herr Dr. Schott häufiger als andere beauftragt wurde“. Dabei fehlt es eigentlich nicht an Alternativen. So gehören beispielsweise der „Arbeitsgruppe Identifikation nach Bildern“ rund zwei Dutzend Sachverständige an – die pro Jahr nach eigenen Angaben „mehrere Tausend“ Gutachten erstellen. Schott, der sein Büro in der hessischen Kleinstadt Langenselbold hat, ist nicht Mitglied dieser Arbeitsgruppe. Dass Schott von Polizei und Justiz so viele Aufträge bekommt, erklärt sich eine andere Gutachterin so: „Er ist für sie bequem, weil er sich recht deutlich äußert und weit aus dem Fenster lehnt.“

Zweibrücker OLG zweifelt an Bildauswertung

Möglicherweise ändert sich an der hohen Anzahl von Schotts Gutachten in Rheinland-Pfalz aber jetzt etwas durch ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Zweibrücken. Das setzt sich mit dessen Arbeit kritisch auseinander und zeigt zudem die generelle Problematik solcher Foto-Vergleichsgutachten auf. Der Fall: Auf der A 6 bei Landstuhl war ein Fahrzeug aus dem Saarland geblitzt worden, das deutlich zu schnell unterwegs war. Das Amtsgericht Landstuhl verurteilte den Halter zu einer Geldbuße von 160 Euro und einem Monat Fahrverbot. Zwar war das Messbild von so schlechter Qualität, dass das Gericht selbst damit den Mann nicht als Fahrer identifizieren konnte. Doch der eingeschaltete Cornelius Schott kam zu dem Ergebnis, dass der Saarländer „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ den Wagen gesteuert hatte. Zu dieser Gewissheit gelangte der Gutachter aufgrund von 20 Merkmalen, die angeblich bei Messbild wie Betroffenem übereinstimmten: Dazu gehörten beispielsweise das hohe freistehende Schläfenbein, die breite Oberlidregion, der leicht asymmetrische Nasenrücken und eine längliche Rille in der Hauptoberlippenzone. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hat das Urteil des Amtsgerichts im Januar aufgehoben. Wie andere Oberlandesgerichte bei ähnlichen Fällen zuvor, wiesen auch die Zweibrücker OLG-Richter darauf hin, dass es sich bei solchen Identitätsgutachten nicht „um eine standardisierte Untersuchungsmethode handelt“. Das Gericht müsse sich deshalb mit der Art, wie der Gutachter zu seinem Ergebnis kommt, besonders gründlich auseinandersetzen.

Stellwags Schicksal kein Einzelfall

Denn nach Ansicht der Zweibrücker Richter können solche Identitätsgutachten auch fehlerhaft sein. Nämlich dann, wenn „die für maßgeblich gehaltenen Merkmale des in Augenschein genommenen Betroffenen in die vorhandene Aufnahme ,hineininterpretiert’ werden, obgleich diese wegen ihrer schlechten Qualität auch anderen Deutungen zugänglich ist“. Der Anwalt des beschuldigten Autofahrers, Christopher Mondt (Saarbrücken), bezeichnet das Blitzfoto „als absolute Katastrophe“, es sei grob verpixelt. Im Fall der Gutachten von Cornelius Schott hält das OLG Zweibrücken obendrein „eine besonders kritische“ Würdigung seiner Einschätzungen durch das Gericht für erforderlich. Begründung: Es gebe belastbare Hinweise, dass dessen gutachterlichen Äußerungen in früheren Verfahren sich als nicht nachvollziehbar oder gar als unrichtig erwiesen hätten. Deshalb könne gegebenenfalls die Einschaltung eines weiteren Gutachters sinnvoll sein. Indirekt gibt das OLG Zweibrücken damit zu verstehen, dass das Schicksal von Donald Stellwag kein Einzelfall ist. Auch andere Betroffene sahen sich durch Schotts Gutachten zu unrecht an der Pranger gestellt, vor Jahren bezeichnete ihn das Magazin Focus deshalb als „Fachmann für Fehlurteile“.

Schott sieht Arbeit nicht in Frage gestellt

Den Fall des Saarländers verwies das Oberlandesgericht Zweibrücken zurück ans Amtsgericht Landstuhl. Dort prüfte man die Angelegenheit wochenlang, dann wurde das Verfahren letztlich ohne erneute Verhandlung eingestellt. Zur Begründung hieß es, „dass die Mittel, die zur Erforschung der Wahrheit erforderlich wären, außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen“. Das Messbild sei aufgrund der schlechten Bildqualität nur bedingt geeignet, den Fahrernachweis zu führen. Deshalb wären weitere Beweisermittlungen erforderlich. Auch aufgrund der langen Verfahrensdauer erscheine dies unverhältnismäßig, ließ die zuständige Richterin mitteilen. Schott selbst sieht in dem Urteil des Oberlandesgerichts Zweibrücken keine Kritik an seiner Arbeit: Die Aufhebung des Urteils beruhe „in diesem Fall auf formaljuristischen Inhalten“, da die Anforderungen des OLG in der Urteilsbegründung des Amtsgerichtes Landstuhl nicht vollständig erfüllt worden seien. Dass mittlerweile offenbar auch das Amtsgericht Landstuhl sein Gutachten nicht mehr ausreichend für eine Entscheidung ansieht, von weiteren Beweisermittlungen aber wegen des hohen Aufwands absieht, kommentierte Schott nicht: Dies liege ausschließlich im Ermessen des Gerichts. Einer der Kritiker Schotts ist Professor Jochen Wilske, der bis 2010 das Institut für Rechtsmedizin an der Universität des Saarlandes geleitet hatte. Schott habe seine sogenannten Identifizierungen teilweise nur im Gerichtssaal durch direkten Vergleich des Angeklagten mit einem Foto erstellt. Das Problem bei ihm sei, dass er nur nach dem Prinzip Wiedererkennen, das heißt nach dem Prinzip Ähnlichkeit vorgegangen sei. Ähnlichkeiten gebe es aber gelegentlich in verblüffender Weise, so kenne jeder die Situation, in der er von einer wildfremden Person plötzlich angesprochen wird aufgrund einer täuschenden Ähnlichkeit, sagt Wilske: „Ähnlichkeit kann daher sehr täuschen und reicht keineswegs für ein Strafverfahren.“

Umdenken bei den Polizeistellen

Schott ist dagegen überzeugt, dass solche Doppelgängerphänomene bei der Identitätsbegutachtung nicht zu falschen Schlüssen führen: Aufgrund des „objektiven Merkmalsvergleichs“ würden sie als Täuschung erkannt, heißt es auf seiner Internetseite. Schott bekommt nicht nur in Rheinland-Pfalz häufig Aufträge. Auch in Bayern ist dies der Fall. Laut einer Antwort des dortigen Innenministeriums auf eine Anfrage der Grünen übernahm Schott zwischen 2010 bis 2013 rund 90 Prozent der Vorgutachten, die das Bayerische Polizeiverwaltungsamt in Auftrag gab. Schott genieße dort „trotz seiner Vorgeschichte ein sehr gutes Ansehen, da er seine Gutachten in der Regel zuverlässig erledigt“, erklärte damals Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Dennoch hat das Polizeiverwaltungsamt seine Gutachterpraxis mittlerweile überdacht und verteilt die Aufträge nun gleichmäßiger: 2017 war Schott in Bayern nur noch bei knapp einem Drittel der Fälle eingesetzt. Und auch bei der Zentralen Bußgeldstelle in Rheinland-Pfalz gab es offenbar ein Umdenken. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hat nämlich nicht nur das Urteil des Amtsgerichts Landstuhl aufgehoben. Wenig später kassierte das OLG auch ein Urteil des Amtsgerichts Pirmasens, das einen Autofahrer aufgrund eines Identitätsgutachtens – das freilich nicht von Schott stammte – zu einem dreimonatigen Fahrverbot verurteilt hatte. Der Beweiswert solcher Vorgutachten sei „durchaus umstritten“, heißt es jetzt bei der Zentralen Bußgeldstelle. Die Vergabepraxis wurde deshalb mehrfach eingeschränkt. Mittlerweile lasse die Bußgeldstelle „Vorgutachten grundsätzlich nur noch auf Weisung des Gerichts durchführen, da sie vom Pfälzischen Oberlandesgericht in Zweibrücken sehr stark in Frage gestellt wurden“, sagte Innenministeriumssprecher Winkler.

Frühe Skepsis

Strafverteidiger wie der Verkehrsrechtsexperte Uwe Schulz (Bad Homburg) hatten bereits vor Jahren Zweifel an der Aussagekraft solcher Identitätsgutachten: Überprüfbare Kriterien, wann von einer Übereinstimmung eines Merkmals ausgegangen werden könne, gebe es nicht, schrieb Schulz 2002 in der „Neuen Zeitschrift für Verkehrsrecht“. Diese Feststellung liege weitgehend im freien Belieben des Gutachters, „dessen Tätigkeit oftmals mehr dem Blick eines Wahrsagers in seine Glaskugel ähnelt als der Methodik eines wissenschaftlichen Sachverständigen“.

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