Rheinland-Pfalz Wie Experten heute die Corona-Maßnahmen kritisieren: Anhörung am Landtag in Mainz

Während Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in Mainz ihren Rücktritt erklärte, ging am Mittwoch im Gesundheitsausschuss des Landtags der politische Alltag mit einer über fünfstündigen Expertenanhörung zur Corona-Zeit weiter. Einige Wissenschaftler und Mediziner überraschten mit Kritik.

Die Regierungsfraktionen aus SPD, FDP und Grünen sowie die Oppositionsfraktionen aus CDU und Freien Wählern hatten sich im April gegen die Stimmen der AfD-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag gegen eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie in einem Untersuchungsausschuss wie etwa in Sachsen-Anhalt entschieden – und stattdessen für eine Expertenanhörung. Fachleute aus dem Gesundheitswesen und der Politik wurden um ihr Urteil gebeten, wie Rheinland-Pfalz die Corona-Pandemie bewältigt hat. Kritik gab es am Mittwoch unter anderem an Transparenz und Kommunikation zur Impfkampagne und am Tempo, wie freiheitseinschränkende Maßnahmen aufgehoben wurden.

Kritische Stimmen waren nicht die Mehrheit. „Aus ethischer Sicht würde ich sagen, haben wir meistens richtig gehandelt unter Unsicherheit“, sagte der Medizinethiker Norbert Paul von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Unter großer Unsicherheit sei vor allem zu Beginn der Pandemie ein Handeln nach einem Vorsichtsprinzip erforderlich gewesen, so Paul, der damals einer der Berater der Landesregierung war. Bei der Rückgabe von Freiheitsrechten sei man aber teils „zu langsam“ gewesen, kritisierte er. Betretungsverbote für ungeimpftes medizinisches und Pflegepersonal zum Arbeitsplatz Krankenhaus verurteilte er scharf als „reine Symbolpolitik“.

„Manche Maßnahmen waren überbordend“

Die Kommunikation zu Corona-Zeiten kritisierte der Mediziner Karl Heinz Kienle aus Koblenz. Die sei „unkoordiniert, oft nicht transparent und nachvollziehbar“ gewesen. Und: „Viele Köche verderben den Brei.“ Auch Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Uni Mainz und ehemaliges Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko), sagte, „die Kommunikation ist nicht überall gut gelaufen“. Er fand sehr deutliche Worte zum Umgang mit Menschen, die kritisch zur Impfung standen und stehen. Der Anteil der ideologisch geprägten Kritiker in der Bevölkerung liege unter drei Prozent. Ein Viertel sei lediglich skeptisch – und zwar aus unterschiedlichsten Gründen, etwa wegen gesundheitlicher Bedenken. Diese Positionen „sozial zu ächten, schadet der Glaubwürdigkeit“, sagte Zepp. Geänderte wissenschaftliche Erkenntnisse hätte man schneller offen kommunizieren und erklären müssen und nicht einer politisch gewollten großangelegten Impfkampagne unterordnen dürfen.

Er betonte, dass viele Maßnahmen sinnvoll, manche aber auch überbordend gewesen seien: „Wir hätten keine Schulen schließen müssen“, sagte der Mediziner – eine Einschätzung, die mittlerweile mehrheitlich geteilt wird. Auch Ausgangsbeschränkungen seien „zeitweise zu eng“ gewesen. Begegnungen von Menschengruppen an der frischen Luft seien nicht so gefährlich gewesen, wie zunächst angenommen.

Der größte Fehler aus Sicht des Westpfalz-Klinikums

Der Geschäftsführer des Westpfalz-Klinikums, Thorsten Hemmer, erinnerte daran, dass es „viel zu lange dauerte“ bis anfangs medizinische Schutzausrüstungen beschafft wurden. Der größte wirtschaftspolitische Fehler sei auf Bundesebene gewesen, die Ausgleichszahlungen an Kliniken für freigehaltene Betten bereits an Ostern 2022 einzustellen. Zu einer Zeit, da es in Kaiserslautern zum Beispiel die meisten Corona-Fälle gegeben habe. Die Folge: Insolvente Kliniken und solche, wie das Westpfalz-Klinikum, die nur mit öffentlichen Mitteln, also Steuergeld, gerettet werden konnten.

Bei künftigen Krisen müsse man vor allem junge, aber auch sehr alte Menschen, besser im Blick behalten – ebenso „Risikofamilien“, die es zu „normalen“ Zeiten schon schwer hätten, waren sich die Fachleute einig. Es brauche auch noch mehr Psychotherapeuten. Rheinland-Pfalz stehe bei der Versorgung im bundesweiten Vergleich jedoch nicht so schlecht da, sagte Sabine Maur, die Präsidentin der Landes-Psychotherapeutenkammer.

Überdacht werden müsse auch nochmals, ob in künftigen Krisen Krebspatienten und Notfallpatienten besser versorgt werden müssen, damit keiner den Herzinfarkt „zu Hause aussitzt“, wie es Philipp Wild formulierte, der Leiter Klinische Epidemiologie und Systemmedizin der Unimedizin Mainz und Leiter der Long-Covid-Studie. Und niemand solle mehr allein sterben oder abgeschottet „wie in Einzelhaft“ im Altenheim leben müssen, hieß es. Zudem gebe es weiter Nachholbedarf bei der Erfassung, Weiterleitung und Auswertung medizinischer Daten. Der Datenschutz dürfe nicht wichtiger sein als der Gesundheitsschutz. Die Kinderärztin und stellvertretende Vorsitzende des Verbands der Kinder- und Jugendärzte in Rheinland-Pfalz, Anke Wenzel, sagte: „Der Datenschutz war zu hoch aufgehängt.“

Die Expertenanhörung wird am Donnerstag in Mainz fortgesetzt: Die Sitzung ist öffentlich über die Webseite des Landtags online zu verfolgen. Im Juli soll dann ein Résumé gezogen werden und die politische Debatte folgen.

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