Pfalz Der Pfarrer, der Spion bei der Gestapo war

Die Hinwendung von Priester und Gemeinde zum Hochaltar und der Gebrauch des Lateinischen als vorherrschende Sprache der Liturgie
Die Hinwendung von Priester und Gemeinde zum Hochaltar und der Gebrauch des Lateinischen als vorherrschende Sprache der Liturgie sind zwei Merkmale der alten Messe.

Raymond Arnette war im Zweiten Weltkrieg in Paris Übersetzer für die Gestapo und Informant der Résistance. Später war er Pfarrer in Frankenthal und lag als Verfechter der alten Messe mit dem Bistum über Kreuz. Wie passt das alles zusammen?

Es bleibt spannend für Raymond Arnette, im Jahr 1997, da erscheint die deutsche Übersetzung seiner im Vorjahr auf Französisch veröffentlichten Memoiren. Der deutschen Ausgabe gibt Arnette, ordinierter katholischer Priester und Gymnasiallehrer in Frankenthal, jedenfalls ein Postskriptum bei, weil „wie so oft in meinem Leben unerwartete Ereignisse“ eingetreten sind: Das Bistum Speyer hat ihm kurz zuvor die seelsorgerische Tätigkeit untersagt. Die hat der zu jener Zeit 74-Jährige nämlich ausgeübt, ehrenamtlich, in seinem Wohnort Frankenthal-Mörsch – das heißt, er hat dort auch die Messe gelesen, in altem, lateinischen Ritus. Ob die Messe in der Form noch gelesen werden sollte ist zu jener Zeit allerdings innerkirchlich umstritten, so, wie es dies eigentlich bis heute ist. Und so schließt Arnette im Jahr 1997 sein Buch mit dem ironischen Satz: „So verspricht mein Leben weiterhin spannend zu bleiben.“ Der deutsche Titel des Buches lautet: „Als Spion bei der Gestapo. Der ungewöhnliche Werdegang eines Pfarrers.“ Völlig unironisch: Spannender geht’s kaum.

Berufsstart als Hilfspolizist

Arnette wird 1923 in Paris geboren, die Mutter stirbt wenige Jahre nach seiner Geburt, und so wächst er bei Verwandten in Luxemburg auf und lernt dort Deutsch. Er besucht zwischenzeitlich das theologische Seminar in Paris, kehrt bei Kriegsausbruch nach Luxemburg zurück und landet 1941 wieder in der französischen Hauptstadt. Sein Vater, selbst kirchenfern, verschafft ihm eine Stelle als Hilfspolizist, und so arbeitet der angehende Priester zunächst bei der Sittenpolizei. „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade“, hat der französische Autor Paul Claudel einmal geschrieben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die Linien dann allerdings sehr krumm. So krumm jedenfalls, dass Teile der Gesellschaften Nachkriegseuropas zunehmend von der Vorstellung geprägt sind, Gott habe zwischenzeitlich den Stift aus der Hand gelegt.

Arnette trifft in der Amtsstube durch Zufall unter anderem den Serienmörder Marcel Petiot, der während der deutschen Besatzung ein angebliches Fluchtnetzwerk unter anderem für Juden betreibt, die er dann in seinem Haus tötet und ausraubt. Petiots Taten werden erst nach Jahren ruchbar, 1946 wird er hingerichtet, wegen 27 erwiesener Morde, wahrscheinlich waren es mehr. Kaltschnäuzig bleibt er noch auf dem Weg zur Guillotine, ein Spiegel der Kaltschnäuzigkeit der Organisatoren des industriellen Massenmordes.

Dies also das Milieu, in dem sich der vorerst verhinderte Priester Arnette in seiner Tätigkeit bei der Sittenpolizei bewegt, und bei Autoren wie Louis-Ferdinand Céline führt der Abstieg in jene Abgründe zu wütendem Menschenhass. Arnette behilft sich in seinen Memoiren mit ironischer Distanz, es ist dies eine sehr französische Perspektive, die Draufsicht des nicht vollständig involvierten, aber auch die stößt irgendwann an ihre Grenzen. 1942 wird Arnette von einem gewissen „Netson“ angeworben, seinen richtigen Namen lernt Arnette nie kennen. Der, Offizier im Widerstand, schlägt Arnette vor, sich bei der Pariser Zentrale der Gestapo als Übersetzer anwerben zu lassen. Und seine Beobachtungen an die Résistance weiterzugeben.

Die das System am Laufen halten

Der künftige Pfarrer übersetzt bei der Gestapo zunächst Flugblätter, und er lernt sie kennen, die Charaktere, die das System am Laufen halten, die 150-Prozentigen, wie er sie nennt, die Mitläufer, die Narzissten und auf sich selbst fixierten, denen das Leid der Menschen gleichgültig ist. Arnette bekommt immer wieder einen Blick auf die Abgründe, wenn er miterleben muss, wie ein angeblicher Widerstandskämpfer halb totgeschlagen wird, um anschließend ins Konzentrationslager verbracht zu werden. „Der Mensch, das denkende Schilfrohr, entwürdigt, erniedrigt, geknickt“, schreibt er. Einige potenzielle Opfer kann er immerhin warnen und vor ihrer Verhaftung bewahren.

Erst Helfer der Résistance, dann Priester – und im Streit mit dem Bistum Speyer: Raymond Arnette bei der Trauung von Sheeba und
Erst Helfer der Résistance, dann Priester – und im Streit mit dem Bistum Speyer: Raymond Arnette bei der Trauung von Sheeba und Joachim Specht.

Er tritt nach dem Krieg ins Priesterseminar ein, 1951 wird er ordiniert. Anfang der 1960er gerät er in den Verdacht, Unterstützer der „OAS“ zu sein, der Terrororganisation, die sich während des französischen Rückzugs aus Algerien bildet und sogar versucht, den französischen Staatspräsidenten de Gaulle zu töten oder wegzuputschen. Es ist wohl eine Mischung aus Zufällen und Ungeschicklichkeit, die Arnette jenen Verdacht einbringt, im hypernervösen Frankreich jener Zeit, jedenfalls verbringt er elf Monate in Untersuchungshaft. Er wird später rehabilitiert. Ab 1964 lebt er in Deutschland, zunächst als Militärpfarrer und dann eben als Lehrer und ehrenamtlicher Seelsorger in Frankenthal. Spannend bleibt es, wie gesagt, auch dort.

Mit dem Segen des Bistums

Was er da macht, in der Kirche in Frankenthal-Mörsch, eben die Messe nach der traditionellen Form des römischen Ritus halten, das ist Teil eines innerkirchlichen Diskussionsprozesses, der seit 60 Jahren läuft. Und der zeigt sich schon im verwendetem liturgischen Material. Auf eine gewisse Art dreht Arnette dabei die Zeit zurück: „Er hatte am Anfang das Messbuch von 1965“, sagt Joachim Specht „dann hat er das von 1962 verwendet.“ Specht ist von Arnette getraut worden, er hat bei ihm die Messe gehört, auch dann, als der französische Pfarrer in Frankenthal gleichsam vor die Kirchentüre gesetzt wurde und dann immerhin in Einselthum im Zellertal noch die alte Messe lesen durfte. Specht hat eine ausführliche Wikipedia-Seite über Arnette verfasst, und er besucht bis heute die Messe nach altem Ritus, inzwischen in der Neustadter Stiftskirche, dort wird sie seit 2010 mit dem Segen des Bistums gefeiert.

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte sich die katholische Kirche neuen Liturgieformen zugewandt, manifest in der „Konstitution über die heilige Liturgie“ von 1963, und diese dann nach und nach umgesetzt. Was, in aller Kürze, heißt: Breite Einführung der Volkssprachen statt des bis dahin weitgehend vorherrschenden Lateins, Betonung der tätigen Teilnahme der Gläubigen an der Messe genauso wie des Gemeindelebens, symbolhaft in dem der Gemeinde zugewandten Priester. In der alten Messform wendet der Priester den Gläubigen im Übrigen nicht den Rücken zu; er ist vielmehr auf Gott ausgerichtet, genauso wie die gesamte Gemeinde. Was für Joachim Specht einer der Hauptgründe ist, die alte Messe zu besuchen: „Mir geht’s hauptsächlich um das Hinwenden zum Altar – weil Christus (dort, Anmerkung der Redaktion) im Tabernakel gegenwärtig ist“, sagt er.

„Es bleibt auch ein Geheimnis“

Schon Papst Johannes Paul II. lockert den Umgang mit der alten Messe, im Versuch, die „Piusbrüder“ des französischen Bischofs Marcel Lefebvre im Schoß der Kirche zu halten. Es ist dann Papst Benedikt XVI., der 2007 die alte Messe als „außerordentliche Messform“ wieder zulässt. „Ich bin überzeugt, dass die Kirchenkrise, die wir heute erleben, weitgehend auf dem Zerfall der Liturgie beruht, die mitunter sogar so konzipiert wird, etsi Deus non daretur: Dass es gar nicht mehr darauf ankommt, ob es Gott gibt und ob er uns anredet oder erhört“, schreibt Benedikt XVI. in seiner Autobiografie, noch als Kardinal Ratzinger. Was Georg Müller, Offizial des Bistums Speyer, so unterschreiben würde.

Müller ist einer von gerade einer Handvoll Zelebranten, die die Messe nach altem Ritus im Bistum Speyer lesen, in Neustadt und in Schifferstadt. Müller schätzt die „Ehrfurcht und den Schutz, den die alte Messe um das Allerheiligste legt“ – und die das Unergründliche Gottes betont. „Es bleibt auch ein Geheimnis“, sagt er. Und: „Wir verstehen Gott nie ganz.“

Wenn man das als Agnostiker deuten wollte – und es ist wichtig, die Perspektive im Gedächtnis zu behalten – was da passiert, in der alten Messe und ihrer unverhandelbaren Ausrichtung auf Gott – dann ist das alles wohl auch die Ausrichtung auf ein unerschütterliches Prüfsystem. Gott ist etwas Absolutes, und Menschen, ihre Überzeugungen und ihre Taten, sind dies durchaus nicht. Wer vor seinen Gott tritt, der verhandelt nicht: Er muss sich permanent der Frage stellen, ob das, was er da glaubt oder tut wirklich versucht, die Welt möglichst vollständig wahrzunehmen und Entscheidungen zum Besten möglichst aller zu treffen – oder ob im eigenen Tun nicht eben doch einiges an Eigennutz steckt, an Bequemlichkeit oder schlichter Gleichgültigkeit.

Polarisierend und politisch aufgeladen

In romanischen Ländern wird Religion oft so begriffen: als notwendiges und unbestechliches Prüfsystem. Man kann das auch anders ausdrücken, härter und existenzieller: Der guineische Kardinal Robert Sarah, ein Freund der vorkonziliarischen Liturgie, hat seiner Meinung nach „unwürdige Messfeiern“ laut „Würzburger Tagespost“ so kritisiert: Als „Furcht, Gott von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, weil sein Blick entlarvt und uns dazu zwingt, die Hässlichkeit unseres Inneren in aller Wahrheit und unabgelenkt zu schauen“.

Vielleicht ist es dieses Moment, das den 2004 verstorbenen Priester Raymond Arnette zum Verfechter der alten Messe hat werden lassen: Die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in die er geschaut hat, die lassen sich nicht einfach wegverhandeln.

Ganz außerhalb der Welt ist die Gotterfahrung allerdings auch im frühen 21. Jahrhundert nicht: Speziell in Frankreich und den USA, ohnehin Zentren eines katholischen Traditionalismus, gilt die dort sehr beliebte alte Messe vielen Beobachtern auch als polarisierendes Moment – und als politisch aufgeladen. Staatsskepsis und gesellschaftliche Entsolidarisierung hätten beispielsweise „einen Neokonservatismus in den USA hervorgebracht, der sich dann auch in der Liturgie spiegelt“, so der Theologe Marco Benini gegenüber „Domradio“.

Wohl mit Blick auf diese Entwicklungen hat Papst Franziskus 2021 mit einem apostolischen Sendschreiben die Verwendung der alten Liturgie wieder unter strengere Auflagen gestellt. In der Sorge, die liturgische Zweifaltigkeit diene dazu, „die Distanzen zu vergrößern, die Unterschiede zu verhärten, Gegensätze aufzubauen, die die Kirche verwunden und ihren Fortschritt behindern und sie der Gefahr der Spaltung aussetzen“, so Franziskus in einem Begleitbrief an die Bischöfe.

Der ökumenische Gedanke

„Ich verstehe schon seine Sorge um die Einheit“, sagt Offizial Müller, dabei sei es wichtig, „dass das (die Messformen, d. Red.) nicht gegeneinander ausgespielt werden sollte“. Und „politische Konnotationen“ wie beispielsweise in Frankreich, „die gibt es bei uns (beim Gebrauch der alten Liturgieformen, d. Red.) nicht“, sagt Müller, der auch nach dem apostolischen Schreiben Franziskus’ keine Änderungen bei der Messpraxis im Bistum Speyer erwartet.

Joachim Specht verweist bei der Diskussion auf die indische Heimat seiner Gattin Sheeba: Dort gebe es drei verschiedene katholische Riten, sagt er, „die existieren nebeneinander, das hat sich bewährt“. Und wenn’s hierzulande dann doch anders läuft, dann hat Specht einen Plan B.: Der Pfarrer der protestantischen Hälfte der Stiftskirche, einer Simultankirche, hat ihm nach eigenen Angaben angeboten, die Messe im protestantischen Teil zu feiern, wenn’s im katholischen nicht mehr geht.

Wäre mal gelebte Ökumene, wenn auch auf denkbar unerwartetem Felde. Es bleibt also spannend.

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Dieser Artikel stammt aus der RHEINPFALZ am SONNTAG, der Wochenzeitung der RHEINPFALZ. Digital lesen Sie die vollständige Ausgabe bereits samstags im E-Paper in der RHEINPFALZ-App (Android, iOS). Sonntags ab 5 Uhr erhalten Sie dort eine aktualisierte Version mit den Nachrichten vom Samstag aus der Pfalz, Deutschland und der Welt sowie besonders ausführlich vom Sport.

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