Sport Tönende Schwermut
Zuerst wäre ja mal die Frage zu klären, ob wir nicht einem Phantom hinterherrennen beziehungsweise einem Klischee aufsitzen, wenn wir von der „russischen Seele“ sprechen. Denn was soll das eigentlich sein, die Seele gleich eines ganzen Volkes – wo man sich ja noch nicht einmal über die eines einzelnen Menschen so richtig klar wird? Dennoch wird gerade im Falle Russlands von einer Seele gesprochen, die ihren Ausdruck auch in der Kunst, vor allem aber in Literatur und Musik gefunden hat. Michaela Friedrich spricht in einem Beitrag für den Deutschlandfunk von einer „Lust am Leiden“, einer „Neigung zur Schwermut“, sodass sich dann auch gleich die Frage aufdrängt, worin dann der Unterschied läge zum deutschen Weltschmerz, den wir vor allem der Romantik zu verdanken haben und der sich eben auch in allen Kunstrichtungen niedergeschlagen hat. Bis hin zu den langsamen Sätzen in den Sinfonien Gustav Mahlers, die im Grunde nichts anderes als auskomponierter Weltschmerz sind. Die russische Musik ist voll von melancholischen Klängen, was man ja nun schon in der Volksmusik erkennen kann – beziehungsweise dem, was man meint, unter Volksmusik verstehen zu dürfen. Unzählige russische Kosaken-Chöre, allesamt natürlich mit dem Attribut „original“ unterwegs, bereisen die Welt, um von der Traurigkeit des russischen Alltags, der Weite der Russischen Taiga und ein bisschen auch von der Liebe zu singen. Natürlich der meist unglücklichen Liebe. Nachdem sich die klassische Musik in Russland zunächst an Europa ausgerichtet hatte, kam es im 19. Jahrhundert zu einer Gegenbewegung, organisiert von der sogenannten „Gruppe der Fünf“ mit Alexander Borodin, Mili Balakirew, Modest Mussorgsky, César Cui und Nikolai Rimksky-Korsakow. Nun sollte das bewusst Russische, Volkstümliche in den Kompositionen herausgestellt werden, was vielleicht am überzeugendsten in Mussorgskys Oper „Boris Godunow“ gelingt. Und es ist entlarvend, dass wir in einem solchen Werk die russische Seele am wenigstens entdecken können oder wollen. Nach russischer Schwermut klingen stattdessen auch eher die fünfte und sechste („Pathétique“) Sinfonie von Peter Tschaikowsky oder die Klavierkonzerte von Sergei Rachmaninow. Vor allem das dritte Konzert, von vermeintlichen Kennern immer nur wissend „Rach drei“ abgekürzt, scheint geradezu ein tönendes Spiegelbild der russischen Seele mit ihrer beschriebenen Schwermut zu sein. Ähnlich wie die langsame Einleitung zur fünften Sinfonie von Tschaikowsky, die an einen Trauermarsch erinnert. Oder das Finale in dessen sechster Sinfonie, in das man tatsächlich so etwas wie Todesahnung hineinhören kann. Tschaikowsky leitete die Uraufführung des Werkes am 18. Oktober 1893. Wenige Tage später starb er vermutlich an der Cholera. Hartnäckig halten sich aber auch Gerüchte von einem erzwungenen Selbstmord. Nun sind allerdings Tschaikowsky und Rachmaninow zwei Komponisten, die sich in ihrer Tonsprache ganz dezidiert am Westen orientiert haben, nicht zuletzt an der Musik der deutschen Romantik. Was dann wieder die eingangs gestellte Frage aufwirft, ob wir nicht doch eher einem Klischee folgen beziehungsweise die russische Seele in die Kompositionen hineinprojizieren. Denn letztlich klingt ein Trauermarsch bei Mahler ebenso melancholisch, schwermütig, weltschmerzvoll wie ein als Klagelied angelegter langsamer Satz bei Tschaikowsky. Dennoch könnte uns gerade Tschaikowsky weiterhelfen, allerdings nicht mit seiner Instrumentalmusik, seinen so überaus populären Sinfonien, sondern mit einer Oper. Genauer gesagt mit dem 1879 uraufgeführten „Eugen Onegin“ nach einer Vorlage von Alexander Puschkin. Der Titelheld verkörpert in seiner Person quasi alle Klischees von der russischen Seele. Im Grunde ist er, obwohl gut aussehend, wohlhabend, seines Lebens schon als junger Mann überdrüssig. Er erschießt seinen Freund Lenski im Duell, nachdem er zuvor heftig mit dessen Braut Olga geflirtet hat. Er weist die heftig in ihn verliebte Tatjana zurück, ohne eigentlich zu wissen, warum er das alles tut. Vielleicht aus Langeweile? Aus Ekel vor dem Dasein – wie dies später der Existenzphilosoph Jean Paul Sartre beschreiben wird? Er wird durchs Leben getrieben, ohne irgendwo Halt zu finden, ist heimatlos, ratlos, haltlos durch und durch. Er leidet an sich selbst, völlig grundlos, ohne Anlass, und ist damit tatsächlich ein Charakter, wie man ihn in der russischen Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts sehr häufig findet. Und vielleicht ja auch so etwas wie die Verkörperung der russischen Seele. Zur Sache —In unserer Rubrik „Die russische Seele“ widmen wir uns Menschen, Begebenheiten und Bräuchen in Russland. Sie erscheint täglich.