Rheinpfalz Auf den Spuren Gutenbergs

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Das haben die Wähler nun davon: Weil sie den Grünen bei der Landtagswahl im März in Scharen davongelaufen sind, treffen sie Ex-Wirtschaftsministerin Eveline Lemke jetzt bei ihren Weihnachtseinkäufen im Buchladen, jedenfalls ihr lächelndes Konterfei. Lemke hat die freie Zeit, die ihr der Wechsel von der Regierungsbank in die hinterste Abgeordnetenreihe des Mainzer Landtages beschert hat, genutzt, um ein Buch zu schreiben. „Politik hart am Wind. Grüne Perspektiven für ein gutes Leben“ (Oekom-Verlag, 24,95 Euro). Am Donnerstag stellte sie das 208 Seiten umfassende Werk in der Vinothek am Gutenberg-Museum vor. Den Ort habe sie bewusst gewählt, in Erinnerung an die Revolution, die Gutenbergs Erfindung ausgelöst hat. Auch sie will etwas auslösen mit ihrem Buch, das mit 3000 Exemplaren auf den Markt kommt: eine Debatte. Auf die Frage, ob der Erscheinungstermin mit Blick auf den Grünen-Landesparteitag heute in einer Woche gewählt wurde oder wegen Weihnachten, kommt ohne Zögern die Antwort: „Weihnachten, ich bewerbe mich nicht für Berlin.“ Die Grünen wählen ihren Landesvorstand und stellen ihre Kandidaten für den Bundestag auf, in Lemkes Buch würde „Kandidat*innen“ stehen. Während die Landesvorsitzenden Katharina Binz und Thomas Petry neun Monate nach dem Absturz von 15,4 auf 5,3 Prozent bei der Landtagswahl wiedergewählt werden wollen, stehen Lemke und Daniel Köbler, das einstige Spitzenkandidaten-Duo, am Rand das grünen Geschehens. Für beide ist das eine schwierige Rolle. Köbler hat das Vorwort zum Buch geschrieben, in dem er nicht verschweigt, dass es Konflikte zwischen beiden gab, auch wenn sie zusammen 2011 die Grünen von der außerparlamentarischen Opposition in die rot-grüne Regierung geführt haben. „Die Sehnsucht, dem politischen Tod zu entgehen, trägt jeder politisch Agierende in sich“, schreibt Lemke in ihrem Buch. Wer sich bis zur Seite 190 vorgearbeitet hat, erfährt auch, was sie davon hält, dass die Grünen in Rheinland-Pfalz gerade in einem sehr aufwendigen Prozess an ihren Parteistrukturen herumgebastelt haben. Nach jeder Wahl sei das geschehen: „Keine der strukturellen Veränderungen hat eine inhaltliche, programmatische oder kulturelle Weiterentwicklung bewirkt.“ Sie spricht von „gruppenpsychotherapeutischer Einlage“. Ein Charakter wie der grüne Ministerpräsident aus Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hätte bei den Grünen in Rheinland-Pfalz keine Chance. Es sei das Misstrauen gegenüber der Macht auch in den eigenen Reihen. „Jeder, der in den Ruf gerät, zu viel Einfluss zu gewinnen, läuft Gefahr, die politische Zukunft zu verspielen“, schreibt Lemke. Konkrete Änderungsvorschläge in ihrem Buch sind allerdings rar, zum Beispiel der Verzicht auf Direktkandidaten, weil Grüne im Land ohnehin nur über die Landesliste ins Parlament einziehen. Ansonsten appelliert Lemke an die Basis, den führenden Köpfen mehr Vertrauen zu schenken und Verantwortung zu übertragen, statt „riesige Entscheidungsgremien“ zu unterhalten. Sie arbeitet auf, dass es den Grünen nicht (mehr) gelungen ist, Jungwähler zu gewinnen, und dass sie keine neuen Wählerschichten erschlossen haben, obwohl mit ihr die Grünen die Wirtschaftsministerin gestellt haben. Diese interessanten und selbstkritischen Ansätze finden Leser auf den ersten zehn Seiten und gegen Ende des Buches. Der überwiegende Teil ist jedoch eine Rückschau auf die Regierungsarbeit in der rot-grünen Landesregierung. Wer Freude daran hat, Wahlprogramme oder Regierungserklärungen oder Pressemitteilungen zu lesen, kommt auf seine Kosten. Kritik übt Lemke in diesem Part auch – an den Kritikern ihrer Politik. Gutenbergs Erfindung kann auch Qual bedeuten. In diesem Sinne: Augen auf beim Kauf von Weihnachtsgeschenken. | Karin Dauscher

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