Rheinpfalz Auf der Suche nach Identität

Rheinland-Pfalz feiert 2017 einen runden Geburtstag. 70 Jahre sind vergangen, seit die Bürger sich am 18. Mai 1947 in einer Volksabstimmung für eine Verfassung des neuen Bundeslandes entschieden haben und den ersten Landtag wählten. Rheinland-Pfalz, lange Zeit als Land der Retorte bezeichnet, scheint mittlerweile zusammengewachsen zu sein; seine Regionen haben sich aber ihren eigenständigen Charakter bewahrt. Diese Serie porträtiert die Landesteile. Heute: ein Streifzug durch Rheinhessen.

„Liebfrauenmilch“. Unvoreingenommen klingt dieses Wort nach Wohlbehagen, nach Sinnlichkeit und Reinheit. Aber wer kann schon „Liebfrauenmilch“ unvoreingenommen aussprechen, geschweige denn hören? In diesem Kompositum steckt das ganze Dilemma Rheinhessens – oder jedenfalls ein guter Teil davon. Im 18. Jahrhundert als vorzügliche Lage für guten Wein in der Nähe von Worms entdeckt, sind die Winzer ob des Erfolges übermütig geworden und haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hektoliterweise eine Brühe abgefüllt und in die Welt verkauft, die mit „Kopfwehtropfen“ geradezu schmeichelhaft umschrieben wäre. Was folgte, war ein Ansehensverlust, der noch Generationen von Marketingstudenten als abschreckendes Beispiel gelten dürfte. Hat sich das schlechte Image des Weins auf die ganze Region Rheinhessen übertragen? Oder ist es eher so, dass sich unter den Mainzern, Wormsern und Alzeyern, unter Bingern und Ingelheimern, den Wörrstadtern, Oppenheimern oder Wendelsheimern nie ein gemeinsames Regionalbewusstsein als „Rheinhessen“ eingestellt hat? Diesen Fragen mögen Wissenschaftler nachgehen. An dieser Stelle sei auf das zarte Gemeinschaftsgefühl verwiesen, das die Feiern zum 200. Geburtstag Rheinhessens im vergangenen Jahr geweckt haben. Die Region ist auf der Suche nach ihrer Identität. Der maßgebliche Initiator, der Nieder-Olmer Unternehmer Peter Eckes, hat deshalb auch schon die Feier des 201. Geburtstags am 8. Juli in Worms angekündigt. Immerhin gab es schon in den Nuller Jahren einen Identitätsstifter: Der mühsame erstmalige Aufstieg des Fußballvereins Mainz 05 in die Bundesliga. 2002 und 2003 knapp verpasst, schaffte es die Mannschaft 2004. Jürgen Klopp, der zunächst aus Verlegenheit und Geldnot des Vereins vom Spielfeld auf die Trainerbank wechselte und inzwischen Coach des FC Liverpool ist, wird bis heute in der Region verehrt. Das Fußballfieber ist nicht beständig hoch, aber wenn es gilt, wie derzeit im Abstiegskampf, füllen sich die Reihen des Stadions – auch mit Fans aus den Kreisen Mainz-Bingen und Alzey-Worms, die gemeinsam mit der Landeshauptstadt Rheinhessen bilden. Mehr als 600.000 Menschen leben dort. Die Region ist die finanzstärkste des Landes. Sie profitiert davon, Teil des Rhein-Main-Gebietes zu sein. Nur die Landeshauptstadt Mainz ist sehr hoch verschuldet. Ingelheim und der Landkreis Mainz-Bingen haben mit dem Familienunternehmen Boehringer-Ingelheim einen potenten Steuerzahler und Mäzen. Außerdem geben die Böden sehr viel her – Landwirtschaft und Weinbau prägen die sanft gewellte Landschaft. Wald ist allenfalls homöopathisch vorhanden. Welche weiteren Gemeinsamkeiten haben die Rheinhessen? Das Bistum Mainz umfasst zwar die ganze Region, erstreckt sich aber zu zwei Dritteln nach Hessen. Zudem ist Rheinhessen konfessionell ein Flickenteppich, in dem sich die Herrschaftsverhältnisse früherer Jahrhunderte widerspiegeln. Selbst der Dialekt, so haben es Sprachforscher des Mainzer Instituts für Geschichtliche Landeskunde festgestellt, ist uneinheitlich. Das gilt für die Laut- und Wortbildung bis hin zum Satzbau. Wem es Tränen in die Augen treibt, der „groint“ oder „greint“ in der Nähe von Worms und Alzey, „flennt“ in Ingelheim und Mainz und „greischt“, wenn er entlang der Nahe wohnt. Viele sprechen gar keinen rheinhessischen Dialekt, weil sie zugezogen sind. Als „Völkermühle“ Europas bezeichnete Carl Zuckmayer, 1896 in Nackenheim geboren, einst die Region. Zuckmayer hatte eine feine Beobachtungsgabe, von der beispielsweise sein Lustspiel „Der fröhliche Weinberg“ zeugt. Heute gehört das Stück zum Repertoire rheinhessischer und hessischer Bühnen. Bei der Uraufführung 1925 war es in Berlin zwar gefeiert worden, aber in der Region hagelte es Proteste. Kritik an der herrschenden Gesellschaft wurde von dieser nicht goutiert. Die Region tat sich auch mit einer anderen Schriftstellerin schwer – und umgekehrt: Anna Seghers. Ihr Roman „Das siebte Kreuz“ handelt von einem entflohenen Häftling aus dem Konzentrationslager Osthofen. Durch die lokale Färbung wirkt das Buch noch einmal beklemmender und beeindruckender. Rheinhessen ist als Verwaltungseinheit exakt so alt wie die Pfalz. Das ist kein Zufall. In der Zeit Napoleons bildeten beide Regionen ab 1798 das „Département du Mont Tonnerre“, benannt nach dem Donnersberg. Das heutige Rheinhessen hatte mit der Mainzer Republik 1792/93 den ersten Ausflug in die Demokratie, aber auch in die revolutionäre Schreckensherrschaft hinter sich. 1816 erhoben die Bayern und die Preußen Anspruch auf die Festungsstadt Mainz und ihr Umland, aber es kam anders: Das Großherzogtum Hessen musste Gebiete in Westfalen an Preußen abtreten und wurde mit dem nördlichen Teil des Départements entschädigt. Wie die Pfälzer hatten auch die Rheinhessen unter Napoleon von Freiheitsrechten profitiert. Der Großherzog Ludwig I. von Hessen-Darmstadt gewährte zwar die Glaubens- und Pressefreiheit, die Unverletzlichkeit des Eigentums und eine sichere Justizverwaltung, aber die Praxis folgte nicht immer dem Papier. Auch deshalb wurde der Karneval, der sich ab 1830 von Köln aus verbreitete, in Mainz und in ganz Rheinhessen politisch aufgeladen. Die Fasnachtsbütt wurde zum Podium für Kritik. Heute gehört die Fasnacht zu den wichtigsten Festen Rheinhessens, dabei schafft das feierfreudige Volk noch viel mehr Anlässe, um das Glas zu heben. Seit der Jahrtausendwende darf sich darin auch wieder Rheinhessenwein finden. Eine Reihe rheinhessischer Winzer haben sich der Qualität verschrieben und sind damit erfolgreich. Selbst um den Turm der Liebfrauenkirche in Worms mühen sich Weinbauern darum, die Lage wieder salonfähig zu machen. Info —Nächste Folge am 9. Mai: der Westerwald. —Bisher erschienen: die Mosel (3. April), der Mittelrhein (10. April), der Hunsrück (18. April), die Eifel (24. April).

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