Rheinpfalz Aug’ in Aug’ mit Frankreich

Für das nächste französische Staatsoberhaupt beginnt am heutigen Abend des Wahlsieges erst die Herausforderung. Er oder sie muss einem zerrissenen Land, das an sich selbst nicht mehr glaubt, Hoffnung und echten Veränderungswillen geben. Warum nur Emmanuel Macron das schaffen könnte – und woran er scheitern kann.

Seifenblase!“ haben sie gehöhnt, als Emmanuel Macron verkündete, er werde für das höchste Staatsamt antreten, das Frankreich zu vergeben hat. Vor drei Jahren kannte ihn noch niemand, wer soll den denn wählen? Heute werden die Franzosen ihn wahrscheinlich zu ihrem Präsidenten küren. 39 Jahre alt, ein dynamischer, optimistischer Typ mit perfektem Schwiegersohn-Gesicht. Jünger als damals John F. Kennedy, jünger als Kanadas cooler Justin Trudeau. Ein Hoffnungsträger für die Herkules-Aufgabe, Frankreich aus seiner Erstarrung zu befreien. Hoffnung ist ein Wort, das in den Reden von Emmanuel Macron nie fehlt. Mit ihm und Marine Le Pen hat Frankreich heute die Wahl zwischen Zuversicht und Angst, Offenheit und Rückzug, Welt- und Wutbürger. Gewinnt Le Pen, werden sich viele Franzosen am Morgen danach fühlen wie nach einer Nacht mit zu viel Pastis, mit brummendem Schädel, bis ins Mark erschrocken. Das Land wird geschüttelt werden von Massendemonstrationen und Streiks der zu spät aufgewachten Verteidiger der Republik. Und Europa wird vor dem Aus stehen. Gewinnt Macron, kann es zum Aufbruch kommen oder zur Verpuffung. Smartboy-Wunder oder doch Seifenblase. Er hat nur fünf Jahre Zeit, ein mutloses, verkrustetes und zerrissenes Land im wahrsten Sinn des Wortes in Bewegung setzen, „en marche“. Weist er bis zum Ende seiner Amtszeit keine Erfolge vor, könnte er dereinst in die Geschichtsbücher eingehen als der Präsident, der Marine Le Pen schließlich doch noch den Einzug in den Elysée-Palast ermöglichte. Die erste Hürde: die Parlamentswahlen im Juni, die ihm in der Nationalversammlung die nötige Mehrheit zum Regieren verschaffen sollen. Macron will für alle 577 französischen Wahlkreise eigene Kandidaten aufstellen – ein Mammutvorhaben für seine gerade mal ein Jahr junge Bewegung „En marche“. Er hat versprochen, dass die Hälfte von ihnen Frauen sein werden. Und dass die Hälfte aus der Zivilgesellschaft kommt, ohne politische Karrierevergangenheit. 14.000 Anhänger haben sich online beworben, darunter Bürgermeister und Abgeordnete aus anderen Parteien. Die aber müssen mit Herz und Hirn zu ihm überlaufen. Doppel-Mitgliedschaften will er nicht zulassen. Nur zugunsten der kleinen zentristischen Partei von François Bayrou verzichtet er auch mal auf eigene Kandidaten, mit ihm hatte er schon früh eine Allianz gebildet. Unbekannte Neulinge, die den politischen Platzhirschen die Stimmen abjagen sollen? Das mutet an wie ein Selbstmordkommando. Aber Macron weiß sehr gut: Seinen Erfolg verdankt er dem tiefsitzenden Ekel der Bürger über die alten, machtgeilen Patriarchen der Politik. Zu ihnen hält er größtmöglichen Abstand. Er braucht unverbrauchte Köpfe. Ob die Wähler im Juni einem frischgebackenen Präsidenten im Parlament eine stabile Mehrheit schenken werden, lässt sich heute kaum sagen. Die Sozialistische Partei und die konservativen „Republikaner“ kämpfen derzeit ums nackte Überleben, aber die gewohnten Denkmuster links und rechts sind nicht tot. Konservative Katholiken, denen die gesellschaftliche Veränderung viel zu schnell geht, haben Macron den Satz übelgenommen, es gebe keine „französische Kultur“ – nur eine Kultur in Frankreich, vielfältig und facettenreich. Und hartgesottenen Linken gilt er, der frühere Berater und Wirtschaftsminister François Hollandes, als Verräter am eigenen Ziehvater und als Büttel der Finanzmärkte – schließlich war er mal Banker, ausgerechnet bei Rothschild! Das Klischee vom aalglatten Emporkömmling verfängt durchaus bei vielen Franzosen. Nur ein Viertel stimmte im ersten Wahlgang für ihn. Seine Anhänger findet er in den Straßencafés und Bürotürmen der Städte und im Mittelstand. Es gibt aber auch ein Frankreich der vergessenen Industrieregionen und abgehängten Dörfer, das an seinen Kirchtürmen und Heldendenkmälern hängt und mit Macrons legerer Toleranz und selbstbewusster Weltläufigkeit nichts anfangen kann. In der Tat ist dieser Mann ein typisches Produkt des Systems, das er umkrempeln will: Arztsohn, Absolvent der Verwaltungshochschule ENA, die seit jeher die politischen Eliten formt. Hat erst Erfolg als Finanzbeamter, wird dann als Banker reich und verkauft schließlich seine Musterknaben-Karriere mit perfektem Marketing als Revolution. Man kann aber auch eine ganz andere Geschichte erzählen. Die von einem brillanten Kopf mit starkem Willen, der sich um Konventionen wenig schert. Der gegen alle Widerstände jahrelang hartnäckig um seine deutlich ältere Französischlehrerin wirbt, bis sie ihn heiratet. Der als Minister, angeekelt von Grabenkämpfen und Ränkespielen, das Amt hinwirft und als unabhängiger Kandidat volles Risiko fährt, als niemand ihm die geringste Erfolgschance einräumt. Der keine Lust mehr hat auf den ideologischen Ballast, mit dem eine sozialistische Hollande-Regierung reflexhaft die Reichensteuer von 75 Prozent propagiert und eine konservative Sarkozy-Regierung das repressive „Kärchern“ der sozialen Brennpunkte. Macron ist ein Sozialliberaler, der Marktwirtschaft und soziale Verantwortung vereinbaren will. Und der Einzige, der im Wahlkampf den Mut hat, Europa wortmächtig zu verteidigen, während die Vertreter der Traditionsparteien das Thema feige umkurven. Emmanuel Macron, der Gottseibeiuns für die wankenden Traditionsparteien, ist ein Mann der Mitte in einem Land, dessen Linke und Rechte sich stets bis aufs Messer bekämpft haben. Er will die Menschen und die Unternehmen fit machen für die Globalisierung, während die Rechts- und die Linkspopulisten sie mit Abschottung und einem überall eingreifenden Staat schützen wollen. Sein Programm ist dem der moderaten Flügel der Sozialisten und Konservativen sehr nahe. Von der Sache her kann er Koalitionen mit ihnen schmieden – wenn mal alle ihre Colts wegstecken. Doch Frankreich ist Frankreich – und was im Parlament eine Mehrheit findet, wird noch lange nicht umgesetzt. Ein Präsident Macron wird seinen wahren Meister möglicherweise auf der Straße finden – wenn seine Regierung all die Sonderprivilegien abzuschaffen beginnt, die die französische Arbeitswelt verkrusten. Das Land, dem Marine Le Pen den Protektionismus im Großen verordnen will, praktiziert ihn längst im Kleinen. Eisenbahner, Advokaten, Bauern oder Taxifahrer: Kein Berufsstand ohne trotzig verteidigte Privilegien. Einige davon hat Macron schon als Wirtschaftsminister geknackt. Er rührt nicht ernsthaft an die heiligen Kühe der Nation, die Rente mit 62 und die 35-Stunden-Woche. Doch allein seine Reformpläne für Arbeitsrecht und Rentenversicherung könnten Hunderttausende auf die Straße treiben. Demos, Blockaden und Streiks bremsen seit Jahren fast jede größere Reform aus. Wie soll Macron das ändern? Aug’ in Aug’ mit Frankreich, wenn es wütend wird, musste schon mancher Präsident klein beigeben. Es ist der Fluch der Präsidenten der Fünften Republik, dass die Bürger von ihnen, den mächtigen Königen auf Zeit, alles Heil erwarten – was in einer komplexen, vernetzten Welt fast zwangsläufig zu Enttäuschung führt. Es ist gleichzeitig ihr Segen, dass die Bürger eine so enge emotionale Beziehung zu demjenigen pflegen, der im Elysée-Palast residiert. Seine Wahl gilt als „Verabredung mit dem Volk“, seine Reden versammeln ganz Frankreich vor dem Fernseher. Macron, der Jungstar mit dem ganz auf seine Person zugeschnittenen politischen Start-up, erinnert mehr an Charles de Gaulles Vision von diesem intimen Rendezvous als alle Staatspräsidenten der letzten Jahrzehnte. Er hat schon das Wunder vollbracht, in einem Jahr 260.000 Mitstreiter zu gewinnen, doppelt so viele, wie die Sozialistische Partei Mitglieder hat. Und so sehr er von Weitem glatt und stromlinienförmig wirkt mit seiner gestriegelten Jungmanager-Erscheinung, so gut beherrscht er die charismatische Verführung. Er kann mitten im Trubel Menschen das Gefühl geben, er konzentriere sich nur auf sie allein. Man konnte das im Wahlkampf beobachten – dieser intensive Blick, der sich in die Augen einer Bürgerin senkt, die ihm ihre Sorgen mitteilen will. Aug’ in Aug’ mit den Franzosen könnte ein Präsident Macron in Fernsehansprachen dieses gewisse Etwas entfalten, das Vertrauen entstehen lässt. Und nichts braucht er nötiger als Vertrauen, wenn er die alten Reflexe überwinden will. Macrons vielleicht größte Gegnerin ist die Angst. Sie hat 40 Prozent der Franzosen in die Arme der Rechtspopulistin Marine Le Pen und des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon getrieben, Menschen, die sich überfordert fühlen von der Globalisierung, alleingelassen von ihrem Staat. Macrons beste Verbündete ist die Ungeduld. Sie brodelt in jungen Leuten aller sozialen Schichten, die sich nach Jahren von 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit nicht länger vertrösten lassen wollen. Sie gärt im Mittelstand, der all die Blockaden, all das rücksichtslose Gehabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern gründlich satt hat. Dem neuen Präsidenten muss es gelingen, die Franzosen aus ihrer Sinnkrise zu holen, damit sie sich Reformen zutrauen. Frankreich leidet unter hoher Arbeitslosigkeit, hoher Staatsverschuldung, einem Kastenwesen, das aus der sozialen Herkunft ein Kainsmal macht für den ganzen Lebensweg. Aber es hat auch ein beeindruckend gutes Bildungssystem, anspruchsvolle Lehrpläne, ein beachtliches Potenzial mathematisch und naturwissenschaftlich hochgebildeter Schulabgänger. Es verfügt über eine funktionierende Infrastruktur und eine gesunde Mittelschicht – die laut dem Pew Research Center sogar größer ist als in Deutschland. Frankreich kann was. Es kann gut sein, dass es Emmanuel Macron ergeht wie Barack Obama, dessen Heldenstatus der ersten Wochen im politischen Alltag zum Normalmaß verkümmerte. Es kann aber auch sein, dass der Mann, in dem die Konservativen ein U-Boot der Sozialisten sehen und die Sozialisten einen Verräter, am Ende deren Kernanliegen rettet: die freiheitlichen Werte der Republik und ein weltoffenes Frankreich.

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