Rheinpfalz Bis das Eis bricht

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Julia Christmann vor dem Forschungsschiff

Ihr Arbeitsplatz ist an der Kaiserslauterer Universität, manchmal aber auch am Ende der Welt. Die Pfälzerin Julia Christmann erforscht als Mathematikerin das Schelfeis in der Antarktis. Sie begegnet Pinguinen, schläft in einem Container auf Stelzen und isst aus einem beheizbaren Kühlschrank.

Dezember 2015. Die „Polarstern“, Forschungsschiff und Eisbrecher zugleich, kämpft sich durch teils zehn Meter dickes antarktisches Eis. An Bord 50 Forscher unterschiedlicher Nationalitäten. Nur gut einen Kilometer ist es noch bis zum Anleger der Neumayer-Station III, und doch braucht es drei Tage, bis er erreicht ist. „Da waren wir abends noch fast am selben Punkt wie morgens, und das, obwohl das Schiff zwölf Stunden hart gearbeitet hat“, erinnert sich Julia Christmann an ihre erste Antarktisexpedition vor zwei Jahren. Die Forscherin aus Kaiserslautern erzählt: „Auf der Reise gab es auch Situationen, in denen wir uns richtig festgefahren hatten und das Schiff erst wieder durch Schaukeln von tonnenschweren Wagenrädern befreien konnten.“ Vom Ablegen in Kapstadt bis zum ersten Ziel der mehrwöchigen Forschungsreise in der Antarktis war Julia Christmann elf Tage auf hoher See unterwegs, ist von T-Shirt-Wetter in eisige Temperaturen gefahren, Pinguinen und Eisbergen begegnet, dazwischen machten ein Sturm und neun Meter hohe Wellen die Überfahrt zum Erlebnis. Julia Christmann hat damals zum ersten Mal Weihnachten fernab der Heimat verbracht. „Schön und feierlich war es trotzdem. Es gab ein besonderes Essen, Wichtelgeschenke, drei unechte Weihnachtsbäume und einen Chor aus Wissenschaftlern und Maschinisten, der Weihnachtslieder gesungen hat.“

Die Rechnerin der "Polarstern"

Der Alltag an Bord der „Polarstern“ gehörte den wissenschaftlichen Projekten. Die 32-Jährige half den Kollegen, Wasserströme, Temperaturen und Salz-Gehalt in unterschiedlichen Tiefen zu messen. Sie selbst hatte da ihre Aufgabe noch vor sich: Zu berechnen, wann und wo das Schelfeis brechen kann. „Schelfeis sind Eisplatten, die Hunderte Quadratkilometer groß und mehrere Hundert Meter dick sein können. An ihrem Rand lösen sich Stücke ab, die als Eisberge auf dem Meer treiben.“ Um diesen Vorgang besser vorherzusagen, hat Julia Christmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Technische Mechanik der Technischen Universität Kaiserslautern, mathematische Modelle entwickelt – ein Schritt auf wissenschaftliches Neuland, „denn bislang gab es keine Berechnungen anhand konkreter physikalischer Faktoren. Man ging immer nur von Beobachtungen aus.“ Was bringt eine junge Frau dazu, die Strapazen im größten Eiskeller der Welt auf sich nehmen? Julia Christmann lacht und schüttelt die Locken. „Das war eine Mischung aus Zufall und Neugier. Als ich 2010 mit dem Mathematikstudium fertig war, habe ich mir überlegt, wie es weitergehen soll. Ich wollte nicht nur theoretisch arbeiten, das war mir zu trocken, sondern etwas Spannendes machen. Also habe ich geschaut, ob ich eine Doktorarbeit im Maschinenbau machen kann, und bin auf eine Stellenausschreibung des Lehrstuhls technische Mechanik gestoßen, bei der es um Forschung an Schelfeis ging. Das hat mich interessiert und tatsächlich habe ich den Zuschlag bekommen, obwohl ich nur wenig Erfahrung im Ingenieurbereich mitbringe.“ Um die fehlende Erfahrung wettzumachen, musste sie sich in die Thematik einarbeiten, unter anderem in einem mehrwöchigen Seminar an der Uni Spitzbergen im Norden Norwegens.

Sonnenmilch und Sonnenbrille unerlässlich

Dass sie während ihrer Promotion Feldforschung in der Antarktis betreiben konnte, ist vor allem ihrer Kooperation mit dem Alfred-Wegener-Institut, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, zu verdanken. Dem Institut gehört nicht nur die „Polarstern“, die mit Forschungslabors ausgestattet und das ganze Jahr auf See ist – im Sommer auf dem Weg zum Nordpol, im Winter in der Antarktis. Es betreibt auch die Neumayer-Station III, die das ganze Jahr von Forschern genutzt wird und die benannt ist nach dem 1826 in Kirchheimbolanden geborenen Polarforscher Georg von Neumayer. Auf Stelzen stehend, kann die Station mit einer hydraulischen Vorrichtung angehoben werden, um mit der Schneedecke mitzuwachsen. Bei ihrem Besuch kann die Doktorandin aus Kaiserslautern in den Stationsalltag schnuppern – ausgestattet vom Alfred-Wegener-Institut mit Montur, Sonnenmilch und Sonnenbrille. „Normale Winterkleidung taugt bei den Minusgraden in Kombination mit dem eisigen Wind nicht, da braucht man schon eine spezielle Ausrüstung.“ Die ist auch im Gepäck, als es für Julia Christmann im Januar 2017 ein zweites Mal in die Antarktis geht, dieses Mal per Flugzeug von Kapstadt aus. Eine spartanisch ausgestattete russische Transportmaschine, „ohne Fenster, aber wenigstens mit einem Dixie-WC“. Nach einem Abstecher zu einer norwegischen Antarktis-Station führt der Weg zur deutschen Station Kohnen. Sie ist nur während des antarktischen Sommers von November bis Mitte Februar besetzt, da es im Winter auf dem Hochplateau zu kalt ist. Hier wird Christmanns Ankunft bereits sehnsüchtig erwartet: „Weil ich Obst, Gemüse und andere frische Lebensmittel mitgebracht habe“, erzählt die Pfälzerin.

Kalorienbedarf in Antarktis höher

Die gelben Container, aus denen die Station besteht, haben sich ursprünglich im Hamburger Elbtunnel nützlich gemacht und stehen ebenfalls auf Stelzen. „Für die Gewinnung von Wasser aus Schnee und Eis ist eine Schmelzanlage eingebaut. Damit man nicht ständig mit der Schaufel für Nachschub sorgen muss, ist jeder darauf bedacht, sparsam mit dem Wasser umzugehen und nicht unnötig lange zu duschen.“ Im Freien steht ein knallroter, kugelförmiger Container, der wegen seines Aussehens „Tomate“ genannt wird. Er dient als Kühlschrank für frische Lebensmittel, ist aber beheizbar, um bei durchschnittlichen Temperaturen um minus 33 Grad nicht zum Tiefkühler zu werden. Er sollte stets gut bestückt sein, „weil es wichtig ist, ausreichend zu essen. In der antarktischen Kälte ist der Kalorienbedarf um einiges höher. Das muss man unbedingt beachten, sonst purzeln die Pfunde nur so – und das kann riskant werden.“ Für die Wissenschaftlerin geht es hier richtig zur Sache. „Ich habe Bodenradarmessungen durchgeführt, um Rückschlüsse auf die Eisdichte und Schichtungen in den oberen paar Hundert Metern zu ziehen. Das Eis ist an diesen Stellen über drei Kilometer dick, und ich konnte Erfahrungen in der Arbeit auf beträchtlicher Höhe sammeln. Teilweise sind wir mit dem Skimobil rausgefahren, aber immer nur zu zweit, falls es eine Panne gibt oder ein Schneesturm aufkommt. Bei minus 30 Grad und darunter muss man vieles bedenken. Sonst kann man in diesen Breiten nicht überleben, auch wenn die Technik eine immense Hilfe ist.“

Wenig Raum für Rückzug

Mit den extremen Bedingungen gilt es zurechtzukommen. „Das ist nicht immer ganz einfach, zumal man über Wochen auf engem Raum zusammenlebt, sich auch die Schlafkabine teilt und nur wenige Rückzugsmöglichkeiten hat. Aber das gemeinsame Ziel verbindet die Forschungscrew und man macht es sich so angenehm wie möglich. Mit Spielabenden und gemeinsamen Mahlzeiten, die der Koch immer sehr gut zubereitet.“ Erfahrungen, die Spuren hinterlassen. „Ich bin demütiger geworden, weiß das vergleichsweise komfortable Leben in der Heimat zu schätzen und freue mich, hier bei uns Blumen und Bäume zu sehen.“ Seit Sommer 2017 hat Julia Christmann ihren Doktor der Ingenieurwissenschaften in der Tasche. Der Schelfeis-Forschung ist sie aber weiterhin treu – als Angestellte beim Alfred-Wegener-Institut. Sie musste der Pfalz dafür nicht den Rücken kehren: „Ich bin eine Woche im Monat in Bremerhaven, ansonsten arbeite ich in meinem Büro an der Uni.“ Wann sie wieder in die Antarktis kommen wird, steht noch nicht fest. „Ich weiß nur eins: In der Wissenschaft wird man nie fertig“, sagt Julia Christmann. Ist das befriedigend? „Manchmal nicht“, gibt die Forscherin zu. „Aber es bleibt immer spannend und man wird regelmäßig vor neue Herausforderungen gestellt. Das überwiegt.“

Abgebrochene Eisberge mit einer sichtbaren Höhe von etwa 40 Metern vor dem Anleger der Neumayer-Station III. Oben: Die „Polarste
Abgebrochene Eisberge mit einer sichtbaren Höhe von etwa 40 Metern vor dem Anleger der Neumayer-Station III. Oben: Die »Polarstern« und Julia Christmann am Anleger.
Die Station Kohnen mitten in der arktischen Sommernacht. Links die rote „Tomate“, der beheizte Kühlschrank der Station.
Die Station Kohnen mitten in der arktischen Sommernacht. Links die rote »Tomate«, der beheizte Kühlschrank der Station.
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