Rheinpfalz Entlarvende Begrifflichkeiten

20 Millionen Worteinheiten: Heidrun Kämper durchforstet bei dem Projekt Tagebücher, Briefe, Flugblätter und auch Schulaufsätze a
20 Millionen Worteinheiten: Heidrun Kämper durchforstet bei dem Projekt Tagebücher, Briefe, Flugblätter und auch Schulaufsätze aus der Zeit des Nationalsozialismus.

«Mannheim.» Wie Adolf Hitler oder Joseph Goebbels gesprochen und geschrieben haben ist seit Langem gut erforscht. Doch wie verhielt es sich im Nationalsozialismus mit der Alltagssprache? Inwieweit schlichen sich Denkmuster und Sprachformeln der Nazis in die Ausdrucksweise der breiten Gesellschaft ein? „Das ist bislang noch eine Forschungslücke“, sagt die Germanistin und Politologin Heidrun Kämper, die diese Lücke mit dem Projekt „Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945“ schließen möchte.

„In den Jahren vor dem Nationalsozialismus waren Ausdrücke wie ,Arier’ oder ,Jude’ egal. Man hat sich darüber einfach keine Gedanken gemacht und sie im täglichen Sprachgebrauch auch nicht verwendet“, nennt Kämper ein Beispiel. Doch das änderte sich mit dem Erstarken der Nazis, die diese Begriffe bewusst in ihren Reden einsetzten und ihnen damit eine bestimmte Bedeutung verpassten. Dabei ist es laut Kämper allerdings wichtig, nicht nur die Jahre von 1933 bis 1945 zu betrachten. „Das nationalsozialistische Denken entstand schon im späten 19. Jahrhundert und hat sich über die Weimarer Zeit in völkischen Gruppierungen fortgesetzt“, erklärt die Wissenschaftlerin, die das gerade angelaufene Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn gefördert wird, am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) leitet. Untersuchungsmaterial gebe es eine Menge. Die Forschungsgruppe nimmt sich beispielsweise Tagebücher, Briefe, Predigten, Flugblätter, Berichte, literarische Texte oder sogar Schulaufsätze vor und untersucht die Wortwahl der Schreiber und Redner. „Wir können auf mehr als 20 Millionen Worteinheiten zugreifen“, sagt Kämper. Mithilfe von Computerprogrammen suchen die Wissenschaftler etwa nach Wortverbindungen, Leitwörtern oder Argumentationsmustern. Kämper gibt jedoch zu bedenken, dass man von der Wortwahl einer Person nicht automatisch auf deren Gesinnung schließen darf. Vor allem nicht, wenn man die weiteren Lebenshintergründe der Menschen nicht kennt. „Nicht jeder, der NS-Wörter benutzte, war ein Nazi“, sagt die Germanistin. „Bei manchen prominenten Personen wissen wir, wie ihre politische Einstellung war. Aber von vielen wissen wir es nicht.“ Die Untersuchung berücksichtigt, dass die Gesellschaft jener Jahre aus heterogenen Teilgemeinschaften mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonten bestand. Jede Gruppe hatte ein eigenes Selbstverständnis, das sich auch sprachlich niederschlug. Und genau an dieser Überlegung setzt das Projekt an. „Es unterscheidet die drei Teilgesellschaften NS-Apparat, integrierte Gesellschaft, also diejenigen, die Teil der sogenannten Volksgemeinschaft waren, und Ausgeschlossene, womit diejenigen gemeint sind, die zu Gemeinschaftsfremden erklärt wurden. Zu Letzteren gehörten Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Sozialisten und Kommunisten“, erläutert Kämper. Daraus ließen sich viele Fragen ableiten. Wie haben beispielsweise diejenigen, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden, ohne dem Widerstand anzugehören, ihre Opposition mehr oder weniger verdeckt ausgedrückt? Dass das Projekt gerade jetzt in Angriff genommen wird, hat durchaus auch einen aktuellen Hintergrund. „Wir stehen heute vor der Herausforderung einer nationalistischen, rassistischen Partei, die eindeutig Denkmuster aus der NS-Zeit übernommen hat“, sagt die Professorin. Damit stelle sich auch die Frage, inwieweit der Sprachgebrauch der AfD in den heutigen Alltag übergehe. „Dabei darf man nicht nach bestimmten Wörtern suchen. Das sind andere als damals“, sagt Kämper, die sich bereits intensiv mit der Sprache des Rechtspopulismus beschäftigt hat. „Aber man muss die Denkmuster betrachten.“ Für Kämper ist das Forschungsprojekt somit auch ein sprachwissenschaftlicher Beitrag zur gesellschaftlichen Aufklärung, vielleicht sogar ein Warnsignal. „Ich hoffe, dass wir einen Mechanismus nachweisen können, wie bestimmte Denkmuster in die Sprache Einzug finden, die nicht zu unserem Wertesystem passen.“ Denn darauf müsse man gegebenenfalls aufmerksam machen.

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