American Football Kopfverletzungen: Wie die NFL dem Fußball voraus ist

Allen Sills erklärt eine Situation, die sich in der ersten NFL-Partie im Frankfurter Stadion zugetragen hat.
Allen Sills erklärt eine Situation, die sich in der ersten NFL-Partie im Frankfurter Stadion zugetragen hat.

NFL und Gehirnerschütterungen, ein ewiges Thema. Die Gesundheit der Spieler sei das höchste Gut, sagt der Chefarzt der Liga. Es dauerte bis zu dieser Erkenntnis. Diskussionen gibt es trotzdem.

Immer wieder lässt Allen Sills die Szene über die Monitore laufen. Der Chefarzt der National Football League zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm, der am Spielfeldrand des Frankfurter Waldstadions steht. L'Jarius Sneed ist gerade mit einem Gegenspieler zusammengestoßen, Kopf voran. Wenig später wankt der Verteidiger der Kansas City Chiefs etwas, bei den Medizinern der NFL gehen die Alarmglocken an. Sie entscheiden: Für den Spieler ist erst einmal Schluss, er muss untersucht werden.

Sneed könnte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen haben, einverstanden mit der angeordneten Auswechslung ist er aber nicht. Wütend wirft er seinen Helm zur Seite. Die erste Partie des NFL-Gastspiels in Deutschland zwischen den Chiefs und den Miami Dolphins bietet Anschauungsmaterial für den schmalen Grat, auf dem American Football wandelt – zwischen Spektakel, Gefahr und Sicherheit. Vor dem zweiten Spiel zwischen den New England Patriots und den Indianapolis Colts (Sonntag, 15.30 Uhr) öffnet die NFL ihre Türen und gewährt einen Blick hinter die Kulissen. Die Liga will ihre medizinischen Abläufe erklären. „Es gibt für uns keinen Unterschied zwischen Vorbereitungsspielen oder dem Super Bowl“, sagt Chefarzt Sills, „oder Hauptrundenspielen, egal ob in den USA, in London oder in Deutschland.“

CTE in 110 von 111 Fällen

In 271 NFL-Spielen kam es in der Saison 2022 zu 149 Gehirnerschütterungen. 2021 waren es noch 126, das entspricht einem Anstieg von 18 Prozent. Bei allen Verletzungen, die sich Footballspieler in ihrem körperbetonten Sport zuziehen können, liegt ein besonderer Fokus auf Kopfverletzungen. Auch, weil die NFL die möglichen gesundheitlichen Langzeitfolgen bis 2016 vehement bestritt. 2017 untersuchten Wissenschaftler in Boston 111 Gehirne ehemaliger, toter NFL-Spieler. In 110 Fällen fanden die Forscher die Krankheit Chronisch Traumatische Enzephalopathie, kurz CTE. Dabei handelt es sich um eine progressive degenerative Erkrankung des Gehirns, ausgelöst durch wiederholte Gehirnerschütterungen. Die Symptome reichen von Kopfschmerzen bis zu Demenz, Depressionen und Aggressionen. Anfang 2023 wies eine Studie der Universität Boston CTE in 345 von 376 Gehirnen verstorbener NFL-Sportler nach. Einige von ihnen hatten sich das Leben genommen – mit einem Schuss in die Brust. Damit ihr Gehirn noch untersucht werden konnte.

An dieser Stelle finden Sie ein Video via Glomex.

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„Die Gesundheit und Sicherheit unserer Spieler sind unser höchstes Gut“, sagt Sills, der seit 2017 NFL-Chefarzt ist. Gemeinsam mit seinem medizinischen Stab hat er Programme initiiert, um die Athleten besser zu schützen. Sensoren in den Helmen sowie in den Schulter- und Oberkörperprotektoren sollen aufzeigen, welche Kräfte in einem Kollisionssport wie American Football wirken. So kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Regeländerungen in der NFL, Stöße gegen den Kopf des Gegners werden mittlerweile härter bestraft. Dass es auf dem Feld hart zu Sache geht, ändert sich aber nicht.

„Teamarzt kennt den Spieler aus dem Alltag“

In diesem blauen Zelt, das neben dem Spielfeld in Frankfurt steht, wird am Sonntag auch L'Jarius Sneed untersucht. Bei Bedarf wird es aufgeklappt – und beim Verdacht auf eine Gehirnerschütterung schauen sich der Teamarzt und ein unabhängiger Neurologie-Experte den Spieler an. Ein wenig stickig ist die Luft hier drin, aber die Untersuchung verläuft abseits von Kameras und dem Trubel im Stadion. „Dass beide zusammenarbeiten, ist wichtig“, sagt Sills. „Der Teamarzt kennt den Spieler aus dem Alltag, sieht möglicherweise eine Veränderung in Verhalten oder Persönlichkeit. Unser Experte hat eine objektive Sicht.“ Bei Sneed lautet die Diagnose: keine Gehirnerschütterung, er darf wieder mitspielen.

„Die Mediziner diskutieren als Kollegen“, sagt Sills, „falls sie sich nicht einigen können, gehen wir den konservativen Weg.“ Deshalb sieht er es nicht als Problem, dass die absolute Anzahl an Gehirnerschütterungen ansteigt. Zwischen 500 und 600 Untersuchungen gibt es pro NFL-Saison, dabei gilt: Lieber eine Auszeit zu viel verordnen als eine zu wenig. Einmal pro Saison komme es vor, dass sich die Experten nicht einigen könnten. Trotzdem gibt es immer wieder Diskussionen: Etwa, als Brock Purdy, Quarterback der San Francisco 49ers, jüngst nach einer Gehirnerschütterung eine Woche später wieder spielte.

Allen Sills erklärt eine Situation, die sich in der ersten NFL-Partie im Frankfurter Stadion zugetragen hat.
Allen Sills erklärt eine Situation, die sich in der ersten NFL-Partie im Frankfurter Stadion zugetragen hat.
»Das mysteriöse blaue Zelt«, sagt Allen Sills. Hier werden Spieler untersucht, die sich möglicherweise eine Gehirnerschütterung
„Das mysteriöse blaue Zelt“, sagt Allen Sills. Hier werden Spieler untersucht, die sich möglicherweise eine Gehirnerschütterung zugezogen haben.
Zwischen 500 und 600 mögliche Gehirnerschütterungen werden pro Saison untersucht.
Zwischen 500 und 600 mögliche Gehirnerschütterungen werden pro Saison untersucht.
Die Ausstattung ist bei jedem NFL-Spiel gleich, egal wo auf der Erde es stattfindet. Egal, ob Vorbereitung oder Super Bowl. Desh
Die Ausstattung ist bei jedem NFL-Spiel gleich, egal wo auf der Erde es stattfindet. Egal, ob Vorbereitung oder Super Bowl. Deshalb gibt es auch in Frankfurt einen Raum, in dem die Beobachter sitzen und Zugriff auf alle Kameras haben.
Schreckmoment: Tua Tagovailoa, Quarterback der Miami Dolphins, liegt krampfend am Boden – die zweite Gehirnerschütterung.
Schreckmoment: Tua Tagovailoa, Quarterback der Miami Dolphins, liegt krampfend am Boden – die zweite Gehirnerschütterung.
»Wie ein Kontrollturm am Flughafen«, bezeichnet Sills den Videoraum im Stadion. Per Headset besteht Kontakt zu r Seitenlinie.
„Wie ein Kontrollturm am Flughafen“, bezeichnet Sills den Videoraum im Stadion. Per Headset besteht Kontakt zu r Seitenlinie.

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Oder Tua Tagovailoa. Der Spielgestalter der Miami Dolphins erlitt in der vergangenen Saison zwei Gehirnerschütterungen. Eine davon bezeichnete sein Klub als Rückenverletzung, um ihn direkt wieder aufs Feld schicken zu können. Im folgenden Spiel schlug er nach einem harten Stoß mit dem Hinterkopf auf den Boden, blieb krampfend liegen und war bewusstlos. Die Spielergewerkschaft der NFL ermittelte gegen die Dolphins und entließ letztlich den bei dieser Partie zuständigen Neurologie-Experten. Von einem Streit will NFL-Chefmediziner Sills aber nichts wissen. „Wir sind sehr stolz, dass wir immer zwei Experten haben, die gut zusammenarbeiten“, sagt er auf RHEINPFALZ-Nachfrage.

Im Kontrollturm des Stadions

Unter dem Dach der Arena in Frankfurt geht es zu wie im Kontrollturm eines Flughafens. Die drei Spielbeobachter auf der Tribüne haben Zugriff auf alle Kameras im Stadion, schauen sich jeden Spielzug ganz genau an. Jeder von ihnen konzentriert sich auf eine Mannschaft, in der Mitte sitzt ein weiterer, unabhängiger Trauma-Experte. Per Headset können sie sich mit dem medizinischen Personal an der Seitenlinie austauschen – und im Fall der Fälle eine medizinische Auszeit anordnen. So weit ist beispielsweise die Deutsche Fußballliga (DFL) nicht.

Auffälligkeiten bei einem Akteur können alle signalisieren: NFL-Mitarbeiter, Ärzte, Teamkameraden, Trainer, Schiedsrichter – oder auch der Spieler selbst. In den vergangenen Jahren sei ein Drittel der Gehirnerschütterungen von den Spielern selbst angezeigt worden. „Sie sagen: Ich könnte verletzt sein, ich muss untersucht werden“, sagt Chefarzt Sills. Seine Überzeugung: „Die Spieler haben verstanden: Eine Gehirnerschütterung ist eine ernste Verletzung, die sie nicht überspielen sollten.“

Daran erinnern soll sie auch ein Plakat, das in jedem NFL-Stadion in den Katakomben hängt, nun auch in Frankfurt. Darauf sind die Modelle verschiedener Helm-Hersteller aufgelistet und nach Farben eingeteilt. „Wie bei einem Crashtest für Autos“, sagt Sills. Grün kennzeichnet Helme, die besonders gut abgeschnitten haben, bei Rot ist das Gegenteil der Fall. „Wir testen jedes Jahr“, sagt der Mediziner, die meisten Spieler würden Grün bevorzugen.

Unter der Grafik ist ein Satz zu lesen: „Kein Helm kann komplett sicher vor Kopf- oder Nackenverletzungen schützen, die ein Spieler beim Football erleiden kann.“

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