Rheinpfalz Nachbarschaftshilfe 2.0

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Kaiserslautern. Digitale Dörfer – zwei Wörter, die außer dem Anfangsbuchstaben zunächst wenig gemeinsam zu haben scheinen. Das erste vermittelt Fortschritt, Zukunft, Weltläufigkeit, das zweite vermeintlich das Gegenteil. Ein vom Land gefördertes Forschungsprojekt dieses Namens sollte Wege finden, die scheinbaren Gegensätze zu vereinen. Gestern wurden in Kaiserslautern Ergebnisse präsentiert – und eine Fortsetzung angekündigt.

Wenn der nächste Supermarkt und der nächste Bäcker kilometerweit entfernt sind, dann ist das für junge, mobile Leute lästig. Für ältere Menschen ohne Auto ist es ein existenzielles Problem. Dabei sind die Ressourcen an Mobilität und Logistik auf dem Land vorhanden. Zigtausende pendeln schließlich täglich zur Arbeit oder fahren zum Einkaufen in die Nachbarorte. Gleichzeitig gibt es auf dem Land noch einen starken Gemeinschaftssinn. Diese Ressourcen intelligent zu vernetzen, um damit den Trend zur Abwanderung in die Metropolen zu stoppen, war die Grundidee hinter den Digitalen Dörfern, ein Forschungsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern in Kooperation mit dem rheinland-pfälzischen Innenministerium und der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz. Partner fanden die Wissenschaftler in zwei Regionen, wie sie typisch sind für die Struktur im Land. Neben Betzdorf im Westerwald waren das im Verbund die Verbandsgemeinden Eisenberg und Göllheim im Donnersbergkreis, wo im zu Ende gehenden Jahr insgesamt drei Testphasen stattfanden. „Wir wollen das Projekt weiter fortführen“, kündigte Randolf Stich, Staatssekretär im Innenministerium, gestern bei der Vorstellung der Ergebnisse des Forschungsprojekts im Fraunhofer Institut in Kaiserslautern an. Das Land hat die Digitalen Dörfer bislang mit fast 1,3 Millionen Euro gefördert. Mit den Testregionen wolle man weiter zusammenarbeiten, darüber hinaus aber das Projekt „massiv auf eine breitere Basis stellen“ und so für alle rund 2200 Ortsgemeinden in Rheinland-Pfalz nutzbar machen. Eine zentrale Beratungsstelle für Kommunen bei der Entwicklungsagentur des Landes stellte Stich in Aussicht. Wie die Digitalen Dörfer eigentlich funktionieren, erklärte Projektleiter Steffen Hess: Kernstück des Projekts war bislang ein regionaler Online-Shop – die „BestellBar“ –, an dem sich in den drei beteiligten Kommunen 35 Händler vom Obstbauern über die Drogerie bis hin zum Vollsortiments-Supermarkt beteiligten, die insgesamt 1200 Produkte anboten. Die rund 150 Bürger, die sich aktiv bei den Testphasen einbrachten, konnten dort über eine eigens entwickelte Digitale Plattform Produkte bestellen. Überrascht waren die Wissenschaftler, dass gerade Menschen im frühen Rentenalter sich rege beteiligten und nicht von der Digitaltechnik abschrecken ließen. Die Auslieferung der Waren – das ist der Clou an der Geschichte – sollten andere Teilnehmer auf freiwilliger Basis übernehmen, zum Beispiel auf dem Heimweg von der Arbeit. Nachbarschaftshilfe 2.0 sozusagen. Über 800 Produkte wurden in den Testmonaten gekauft. Als erwünschter Nebeneffekt wird somit die regionale Wirtschaft gestärkt. Während der drei Testphasen sammelten die Wissenschaftler und die Verwaltungen vor Ort wichtige Erkenntnisse, welcher Feinjustierungen es bedarf: eine Belohnung für die Transporteure in Form einer digitalen Währung beispielsweise. Bei einem Online-Shop soll das Forschungsprojekt dabei nicht stehenbleiben. Weitere Möglichkeiten der Vernetzung wurden angedacht und in Ansätzen auch schon erprobt: Car-Sharing oder Online-Sprechstunden von Ärzten beispielsweise. An der „TauschBar“ wechseln Gegenstände dauerhaft oder zeitweise den Besitzer – gegen ein Tauschobjekt oder eine Dienstleistung. Eine Eisenbergerin bot zum Beispiel selbst gebackenen Käsekuchen feil, ein anderer Teilnehmer offerierte Werkzeug zum Ausleihen. Via Chat können die Nutzer die Konditionen für einen Tausch aushandeln. Diese Art der Vernetzung ist es, die Projektleiter Hess am Herzen liegt: „Was früher alltäglich war, wollen wir auf digitalem Weg wiederbeleben.“ EINWURF/NILS NAGER

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