Rheinpfalz Novemberblues

Es gibt Leute, die würden den November am liebsten abschaffen. Weil es die Zeit ist, in der alles stirbt. Andere fühlen sich in diesem Monat pudelwohl. Weil es die Zeit ist, in der alles so schön ruhig ist. Ein Streitfall.

Von November-Liebhaber Jan Peter Kern Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil die Tage dann endlich wieder kürzer werden. Morgens wird’s spät hell, abends früh dunkel. Ich mag das. Das ist zwar zunächst immer ein bisschen gewöhnungsbedürftig, klar, aber: Nach dem täglichen Wahnsinn das Büro verlassen, gemütlich nach Hause fahren und sich so richtig auf die Couch, den Kamin und ein Weinchen freuen – das ist doch toll. Nicht für den Valentinstag oder den Weihnachtsbaum wurden Kerzen erfunden, sondern für stockdunkle Novemberabende. Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil ich da stundenlang faul auf der Couch rumliegen und Fernsehen gucken kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Was noch schöner ist, als irgendwelche Filme oder Serien zu sehen: einfach mal früh ins Bett gehen, die dicke Daunendecke bis zu den Augen hochziehen und den Regentropfen lauschen, die gegen das Fenster prasseln. Der November ist für mich der schönste Monat des Jahres. Weil da die Vorfreude auf das große Weihnachtsfest mindestens genauso groß ist wie im Dezember – nur gibt’s im elften Monat des Jahres zum Glück noch keine kitschigen Adventskalender, keine hüftgoldspendenden Vanillekipferl und erst recht nicht so viel geschmackloses Bling-Bling in Nachbars Vorgarten. Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil ich da zum ersten Mal nach monatelangem Schwitzen und Übergangsjäckchen-Tragen endlich wieder meinen kuscheligen Lieblingspulli und dicken Strickschal anziehen kann. Es ist nun mal so: Für die kalte Jahreszeit gibt es einfach die tollsten Klamotten, abgesehen von Funktionskleidung. Und noch dazu ist die Mode fürs Spätjahr viel sozialverträglicher. Schließlich begegne ich im Supermarkt niemandem, der mit Socken in Adiletten und Feinripp-Leibchen in verwaschenem Weiß vor mir an der Kasse steht. Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil es dann keine ekligen Spinnen mehr in meiner Wohnung gibt. Auch sonstiges undefinierbare Krabbelgetier, das nachts hinter Bodenleisten hervor- und aus irgendwelchen Löchern herauskriecht und es sich auf den Wänden gemütlich macht, scheint auf einmal verschwunden zu sein. Und es gibt auch keine lästigen Nacktschnecken vor der Haustür oder diese noch viel lästigeren Fruchtfliegen, die in der warmen Jahreszeit über den erst am Vortag gekauften Bananen munter ihre Runden drehen. Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil es dann viel mehr Spaß macht, draußen im Lieblingscafé zu sitzen als im Sommer, wenn dort die Leute wie Hühner auf der Stange nebeneinander hocken. Dort gibt’s dicke Decken zum Einmummeln und manchmal sogar auch Heizpilze. So bei einem Milchkaffee fremde Leute zu beobachten – unbezahlbar. Der November ist der schönste Monat des Jahres. Weil es angenehm ruhig ist. Nach dem Oktober mit der kleinen Hektik (bayerische Trachten und Gruselmasken) folgt der Dezember mit der großen Hektik (Geschenke, Geschenke, Geschenke). Überall ist’s angenehm still. Es ist ein Monat nach dem Sturm und ein Monat vor dem Sturm. Ja, der November ist einfach der schönste Monat des Jahres. Weil es sehr viele Tage gibt, an denen es zunächst neblig ist, dann ein bisschen sonnig, abends wieder neblig. Das hat etwas Mystisches, etwas sehr Faszinierendes. Dazu ist es schön kalt, aber nicht zu kalt. Und wenn’s dann doch mal ziemlich eisig wird, dann ist das zwar meistens nicht angenehm, aber immer noch viel besser, als sich andauernd Schweißperlen von der Stirn wischen zu müssen. Und: Frieren stinkt nicht so wie Schwitzen. Von November-Hasser Rolf Gauweiler Der November ist unter den zwölf Monaten des Jahres der morbide, der triste, der unheimliche und, ja, auch der gefährliche. Die Natur stirbt. Die bunten Blätter, mit denen uns der Oktober diesen Farbenrausch beschert hat, liegen nun feucht und klebrig auf Straße und Bürgersteig. Ständig muss gekehrt werden, und wer sein Laub nicht kompostiert, steht in der Autoschlange vor der überfüllten Grünschnittdeponie. Aber nicht nur die Natur ist gezeichnet von ihrer Vergänglichkeit. Der November mahnt uns unablässig an den Tod. Bereits an Allerheiligen und Allerseelen betrauern wir den Verlust der Lieben, besuchen ihre Gräber und erinnern uns an eine Zeit, die nicht mehr zurückzuholen ist. Dann steht der Volkstrauertag vor der Tür. An ihm sollen wir der Opfer von Krieg und Gewalt gedenken – als ob nicht jeden Tag die Nachrichten dazu genug Anlass bieten würden. Und wenn man glaubt, jetzt sei es gut mit der Hingabe an den Tod, zwingt uns der Totensonntag noch einmal zur Einkehr und zum Innehalten. Nur der November entfaltet unter den Monaten eine solche Traurigkeit. Während ich diese Zeilen schreibe, schweift mein Blick aus den Fenstern meines Büros hinaus. Weit kann ich nicht sehen, der Himmel ist grau, und Nieselregen benetzt die kahlen Äste der Bäume. Grau ist im Grunde keine Farbe, kein Maler hat je damit experimentiert. Grau ist ein erdrückender Seelenzustand. Wie ein Leichentuch legt sich bleiernes Grau übers Land und erdrückt jede Lust auf Leben. Kein Lufthauch regt sich. Die Abgase der Autos und Fabriken legen sich auf die Bronchien, lassen uns schwer schnaufen. Eine feuchte Kälte kriecht unter die Mäntel und in die Knochen. Die Praxen der Hausärzte sind voll mit schniefenden Patienten, die sich die Krankmeldung abholen. Wen die Viren noch nicht befallen haben, schuftet in diesen Wochen für zwei. Im altdeutschen Wortschatz wird der November Nebelung genannt. Nebel ist uns nicht geheuer. Er ruft bei vielen Beklemmungen hervor, und kein Edgar-Wallace-Gruselfilm kam in den 1960er-Jahren ohne wallende Nebelschwaden aus, aus denen der Mörder unvermittelt auftauchte. Im Nebel verlieren wir die Orientierung, er versperrt die Sicht, verschluckt die Geräusche, lässt uns blind und taub durch die Gegend torkeln. „Seltsam, im Nebel zu wandern“, begann der Dichter Hermann Hesse eines seiner bekanntesten Gedichte und schloss es mit den Versen: „Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein.“ Der November ist aber auch ein Monat, der einige Gefahren birgt. Viele Leute sind schlapp, können sich nicht richtig konzentrieren und begehen deshalb Fehler. Schuld daran ist das Hormon Melatonin, das der Körper bei wenig Licht produziert. Melatonin macht müde. Licht ist Leben. Niemals ist das so zu spüren wie im November. Gegen den Novemberblues hilft Kuscheln. Glaubt Martin Grunwald, ein Haptikforscher aus Leipzig (Haptik kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Lehre vom Tastsinn). „Wenn es draußen trüb, kalt und nass ist, müssen wir aktiver für unser Wohlbefinden sorgen“, rät der Forscher. Eine kurze Umarmung sorgt für gute Laune. Kuscheln ist aber im ganzen Jahr nett. Den November brauche ich dafür nicht. Für mich beginnt die schöne Zeit erst dann wieder, wenn in Nachbars Vorgarten die Knospen der Magnolie sprießen.

x