Baden-Württemberg Stuttgart 21-Streit: Kretschmann will Machtwort von Kanzler

Winfried Kretschmann
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann.

Das Milliarden-Bahnprojekt wird noch später in Betrieb genommen. Diese Kröte hatte das Land zuletzt geschluckt. Nun zeigt sich: Auch mit der Digitalisierung der Bahn wird es knapp.

Stuttgart (dpa) - Im Streit um den Ausbau der Digitalisierung beim Bahnprojekt Stuttgart 21 hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ein Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gefordert. Die Umsetzung des Projekts «Digitaler Knoten Stuttgart» drohe aktuell zu scheitern, warnt Kretschmann in einem Brief an den Kanzler. Ohne dieses Projekt seien die erhofften Kapazitäts- und Leistungssteigerungen in der ganzen Region allerdings nicht möglich. Zuvor hatten der «Spiegel» und «SWR» darüber berichtet.

Hintergrund der bereits seit längerem geführten Auseinandersetzung zwischen Bund, Deutscher Bahn (DB) und Land ist eine Debatte über die dringend notwendige Digitalisierung der Bahn in Stuttgart. Mit dem sogenannten Digitalen Knoten Stuttgart (DKS) sollen unter anderem die Kapazität des Tunnelbahnhofs erhöht und in einem weiteren Schritt die S-Bahn im Raum Stuttgart möglicherweise zuverlässiger und pünktlicher gemacht werden. Die Umsetzung dieses Vorhabens ist unsicher. Der Bahnvorstand hatte das Digitalprojekt per Gremienvorbehalt zunächst gestoppt. Hier setzt Kretschmanns Kritik im Schreiben an den «lieben Olaf» an.

«In diesem Zusammenhang ist für mich alarmierend, dass die DB darauf verweist, dass die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 auch mit den derzeit in Umsetzung befindlichen ersten beiden Bausteinen möglich sei», schreibt Kretschmann in dem Brief, der der dpa vorliegt. «Doch erst Baustein 3 schließt die Realisierung der kapazitätssteigernden Elemente ein.» Ohne ihn leiste der Knoten nicht, was er verspreche. Außerdem fehlten zentrale Erkenntnisgewinne für die Umsetzung weiterer Knoten-Vorhaben in Hamburg, Frankfurt und München.

Will die Bahn Geld umlenken?

In dem Brief wirft der Grünen-Politiker der hoch verschuldeten Bahn vor, beim Geld eigene Pläne durchzusetzen: «Nach unserem Eindruck versucht die DB jedoch, die hierfür reservierten Bundeshaushaltsmittel auf die Sanierung des Bestandsnetzes umzulenken.» Und weiter: «Bei allem Verständnis dafür, dass das Bestandsnetz hohe Priorität genießt, darf im Poker um die knappen Mittel nicht die wichtige Zukunftsinvestition in die «Digitale Schiene» geopfert werden.»

Kretschmann warnt zudem vor Schäden für den Ruf der Bahnindustrie. «Eine Absage hätte auch eine industriepolitisch fatale Signalwirkung für den gesamten Bahnsektor», schreibt er. Deutschland drohe bei einem Scheitern «ein umfassender Innovations- und Kompetenzverlust in einem für die Zukunft der Schieneninfrastruktur zentralen Feld».

Nach Angaben aus Aufsichtsratskreisen sind der Vorbehalt und der Stuttgarter Knoten am (heutigen) Donnerstag auch Thema im Aufsichtsrat des bundeseigenen Konzerns.

Was ist der «Digitale Knoten»?

Der Digitale Knoten in der Metropolregion Stuttgart wäre der erste digitalisierte Bahnknoten Deutschlands über alle Zuggattungen. Dabei werden alle S21-Strecken und große Teile des S-Bahn-Netzes der Region Stuttgart mit dem digitalen Bahnleitsystem ETCS (European Train Control System), digitalen Stellwerken und automatisiertem Zugbetrieb ausgestattet.

Hinter der Abkürzung ETCS steckt ein System, das Zugfahrten auf dem Streckennetz kontrolliert und beeinflusst. Es überwacht etwa, ob ein Zug einen Gleisabschnitt befahren darf, und es hat die Geschwindigkeit im Blick. Mit dem Stuttgarter System ETCS Level 2 kann zudem auf die konventionellen Signalanlagen entlang der Strecke verzichtet werden. Die Streckensignale existieren also künftig nur noch virtuell. Lokführern werden die Informationen im Voraus direkt im Führerstand angezeigt. Ziel ist es, die Kapazität auf der Schiene zu erhöhen, etwa weil Züge damit in dichteren Abständen fahren können.

Nicht das erste Schreiben

Das Schreiben des Regierungschefs ans Kanzleramt ist keineswegs der erste Stuttgarter Brandbrief im Streit um milliardenschwere Mehrkosten, jahrelange Verzögerungen und die Finanzierung des Bahnprojekts Stuttgart 21. Auch Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hat der Bahn bereits vor einem Monat vorgeworfen, die Finanzierung der Digitalisierung des neuen Bahnknotens zu behindern. In einem Schreiben warnte der Grünen-Politiker vor einem «Risiko des vollständigen Scheiterns» des dritten Bausteins des Digitalen Knotens Stuttgart.

Was Stuttgart 21 bedeutet

Das Projekt Stuttgart 21 steht nicht nur für den Bau des neuen Hauptbahnhofs in der Landeshauptstadt, sondern für die komplette Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart. Gebaut werden neue Bahnhöfe, etwa ein neuer Fernbahnhof am Flughafen, Dutzende Kilometer Schienenwege und Tunnelröhren, Durchlässe sowie Brücken. Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm schließt neben Stuttgart 21 auch den Neubau der bereits 2022 eröffneten Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm ein. Herzstück von Stuttgart 21 ist der neue unterirdische Hauptbahnhof, der im Gegensatz zum bisherigen Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof sein wird.

Vor etwa zwei Wochen hatte die Deutsche Bahn die Inbetriebnahme des Projektes Stuttgart 21 erneut verschoben, dieses Mal auf Dezember 2026. Bislang sollte der neue Tiefbahnhof im Dezember 2025 in Betrieb gehen.

Der Konzern beziffert die Gesamtkosten für das Projekt derzeit auf rund 11 Milliarden Euro und hat zusätzlich einen Puffer von 500 Millionen Euro einkalkuliert. In einem Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009 ist jedoch nur die Verteilung von Kosten bis zu einer Höhe von gut 4,5 Milliarden Euro geregelt. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Kostensteigerungen gegeben. Als Grund dafür hatte die Bahn zuletzt gestiegene Baupreise genannt.

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