Rheinpfalz Wenn die Bettdecke vibriert
«Frankenthal.» Die Kinder im Internat des Pfalzinstituts für Hören und Kommunikation (PIH) leben mit ihren Betreuern in familiären Kleingruppen. Sie freuen sich, wenn sie es morgens schaffen, mit dem Vibrationsalarm ihres Weckers allein aufzustehen. Dann sind sie einem normalen Alltag ein Stück näher.
„Nico ... Nico!“ Die Bettdecke vibriert, doch Nico schläft wie ein Stein. Mit seinen zehn Jahren kann er eigentlich allein aufstehen. Dabei hilft ihm der Vibrationsalarm seines Weckers. Denn Nico ist taub und lebt von Montag bis Freitag im Internat des Pfalzinstituts für Hören und Kommunikation in Frankenthal. Am Wochenende ist er bei seiner Familie in Ludwigshafen. Heute kann Nico nicht allein aufstehen. Er ist hör- und körperbehindert. Damit er sich im Schlaf nicht verletzt oder aus dem Bett fällt, wird er nachts in einer Schiene gelagert. Es ist 6.50 Uhr: höchste Zeit. Liebevoll rüttelt Oliver Johannes den Jungen wach und hilft ihm. Johannes ist der Betreuer der Gruppe. Nico teilt sich das Zimmer mit Maxim. Der springt munter aus dem Bett und zieht sich an. „Die Kinder freuen sich richtig, wenn sie alleine mit dem Vibrationswecker aufstehen können, ohne zu verschlafen“, sagt Johannes. Jede der zwölf Internatsgruppen im PIH mit jeweils sechs bis acht Kindern wird von zwei Erziehern oder pädagogischen Mitarbeitern betreut. Johannes, 45 Jahre, hat zwei Ausbildungen: als Erzieher und Heilpädagoge. Vorher hat er an der Schlossschule in Ilvesheim gearbeitet. Dort liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit hochgradiger Sehbehinderung oder Blindheit. Vor einem Jahren ist Johannes mit seiner Familie nach Frankenthal umgezogen und ans Pfalzinstitut gewechselt. Unterstützt wird er von Praktikantin Samantha Müller. Die Abiturientin absolviert im PIH ein Freiwilliges Soziales Jahr. Zu Johannes’ Gruppe gehören sieben Kinder zwischen fünf und elf Jahren, ein Mädchen ist krank daheim. Nico, Maxim, Aaron und die Mädchen Josephine, Ramize und Marie gehen in die Grundschule. Die Schüler kommen aus der Pfalz und Rheinhessen, sagt Internatsleiterin Birgit Schuster. Im Berufsschulbereich auch aus angrenzenden Bundesländern. Es gibt nur zwei weitere Einrichtungen wie das PIH in ganz Rheinland-Pfalz: in Neuwied und Trier. Wegen der weiten Wege ist der Schule seit der Gründung 1825 ein Internat angegliedert. Seit 1970 gibt es die Kleingruppen mit familienähnlicher Struktur. Sie trage enorm dazu bei, dass sich die Kinder hier wohlfühlten, sagt Schuster. Und sie ermögliche individuelle Förderung. Die Schüler haben eigene Zimmer, meist zu zweit oder zu dritt. Der Jüngste in Johannes’ Gruppe ist Aaron. Er schläft heute alleine im Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Samantha Müller weckt ihn und hilft ihm beim Anziehen. Aaron ist erst seit einem halben Jahr im PIH und kann noch nicht so gut sprechen und sich ausdrücken wie die anderen. „Er hat aber sehr gute Fortschritte gemacht und sich in der Gruppe angepasst“, sagt Johannes. Nach und nach erscheinen die Kinder im Essraum. Um 7.10 Uhr sind alle am Tisch versammelt. Am Frühstückstisch schmieren sich die Kinder ihre Schulbrote. Dann machen sie sich ihre Frühstücksbrote. Lebhaft machen sie klar, was sie von der anderen Seite des Tischs haben wollen. Nico lacht, Aaron hat einen braunen Fleck auf der Nase. Nutella ist heiß begehrt. Nach dem Frühstück wieder wildes Gewusel: Die einen räumen ab, die anderen putzen die Zähne. 7.30 Uhr: Noch ein paar Minuten bleiben, bis die Gruppe zur Schule aufbrechen muss. Maxim, Nico und noch ein paar Jungs aus der Nachbargruppe wollen schnell noch mal raus in den Garten und schauen, ob ihr selbstgebautes Haus vom Vortag noch steht. Johannes mahnt zum Aufbruch. Jacke und Schuhe werden angezogen, Ranzen und Turnbeutel geschultert. Zur Schule begleitet werden die Kinder vom Weckdienst und von der Nachtbereitschaft. Letzte Kontrolle: Sind alle da, sind alle Lichter aus? Der Trupp zieht los. Für Nico nimmt die Praktikantin sicherheitshalber einen Rollstuhl mit. Josephine ist ganz stolz, dass sie ihn heute schieben darf. Nico will aber auf jeden Fall versuchen zu laufen. „Es klappt jeden Tag ein bisschen besser“, sagt Johannes. Auf halber Strecke ist Nico doch froh, nicht mehr laufen zu müssen. 7.55 Uhr: Alle sind pünktlich in der Schule. Am Schultor verabschieden sich die Betreuer einzeln von ihren Schützlingen. Ab hier gehen sie alleine weiter.