Energie Moskaus Rechnung ging nicht auf

Bundeskanzler Scholz steht Anfang August 2022 in Mülheim vor einer zuvor in Kanada gewarteten Turbine. Er wollte damit beweisen,
Bundeskanzler Scholz steht Anfang August 2022 in Mülheim vor einer zuvor in Kanada gewarteten Turbine. Er wollte damit beweisen, dass das Teil einbaufähig sei, weil Moskau mit Verweis auf eine »fehlende Turbine« den Betrieb von Nord Stream 1 ausgesetzt hatte.

Am 31. August 2022 stoppte Russland seine Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1. Der Kreml wollte so Druck wegen der Sanktionen aufbauen. Wie ist die momentane Lage?

Vor einem Jahr schockte der russische Machtapparat seine Abnehmer in der Europäischen Union mit einem Gaslieferstopp. Erst führte Moskau eine nach Wartungsarbeiten in Kanada fehlende Gasturbine als Grund dafür an, die Lieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 zurückzufahren. Dann wurden die Gaslieferungen wegen „Wartungsarbeiten“ ganz eingestellt und wegen eines mutmaßlichen Öllecks in der Kompressorstation Portowaja nicht wieder aufgenommen.

Am 31. August 2022 floss zum bislang letzten Mal Erdgas durch die Ostseeleitung, allerdings in kaum noch nennenswerter Menge: 235.000 Kilowattstunden, der Jahresverbrauch von gut 21 Haushalten in Deutschland.

Die EU beschuldigte Gazprom damals, die von Russland nach Deutschland verlegte Pipeline unter falschen Vorwänden stillzulegen. Russland ziehe es vor, Gas zu verbrennen statt Verträge zu erfüllen. Das sei ein weiterer Beleg seiner Unzuverlässigkeit als Lieferant.

Werben für neue Pipeline

Russland wollte durch den Lieferstopp vor allem den Druck auf Deutschland und die EU erhöhen, damit diese die im Zuge des russischen Kriegs gegen die Ukraine vom Westen verhängten Sanktionen lockern. Schon im Mai 2022 hatte Russland den Gastransport durch eine andere Pipeline, die Jamal, komplett eingestellt.

Moskaus Kalkül war es, durch die fehlenden Gasmengen den Preis weiter in die Höhe zu treiben – und dadurch die Europäer zum Nachgeben zu bewegen. Der Preis war bereits seit dem Herbst 2021 auf ungeahnte Höhen gestiegen – durch die wieder anziehende Weltkonjunktur und später durch den Krieg. Mit diesem Vorgehen wollte der Kreml zudem erreichen, dass die fertiggestellte Ostseepipeline Nord Stream 2 doch noch in Betrieb genommen würde.

Kremlchef Wladimir Putin warb offensiv für die neue Pipeline. Damit würden viele Probleme auf einmal gelöst – und vor allem würden die Preise für europäische Verbraucher sinken. Doch Deutschland stellte klar, dass man sich nicht erpressen lassen wolle.

Waren es Ukrainer?

Doch noch bevor dann die Ostseepipelines (wieder) hätten in Betrieb genommen werden können, sprengten Ende September in der Nähe der Ostsee-Insel Bornholm Saboteure beide Stränge von Nord Stream 1 und einen von Nord Stream 2. Die Ermittlungen zu den Tätern laufen. „Der Spiegel“ und das ZDF berichteten nach einer großen Recherche zuletzt, dass die Spuren in die Ukraine führten. Das hatten verschiedene Quellen bereits im März vermutet. Das Land war stets gegen die Pipelines. Präsident Wolodymyr Selenskyj stritt aber eine Beteiligung Kiews an dem Anschlag ab. Die Frage ist zudem, ob es überhaupt staatliche Stellen waren, die einen solchen Anschlag verübt haben könnten – oder ob es vielleicht privat agierende Akteure waren. Wenn es überhaupt Ukrainer (die nicht im Auftrag Moskaus handelten) waren.

Der Schaden durch den Lieferstopp für den russischen Gasmonopolisten Gazprom ist immens. Zwar nimmt China deutlich mehr Gas von den Russen ab als je zuvor – aber zu vergleichsweise niedrigen Preisen. Einen Ersatz für den EU-Markt konnte Russland bisher nicht finden, auch wenn es weiterhin Flüssigerdgas (LNG) in die EU verkaufen kann. 65 bis 75 Prozent des angestammten Marktes in der EU könnten nach Meinung russischer Analysten für Gazprom für immer verloren sein.

Großes Minus bei den Einnahmen

Bereits vor dem Turbinenstreit hatten Entscheidungen von Kremlchef Wladimir Putin zur systematischen Senkung der Liefermengen geführt. Eine übliche Liefermenge von zum Beispiel 1755 Gigawattstunden pro Tag wurde zuletzt am 1. Juni registriert. Danach wurden die Mengen weniger. Viele europäische Abnehmer kündigten ihre Verträge mit Gazprom, nachdem Putin die russische Staatsfirma angewiesen hatte, sich die Rechnungen in Rubel und nicht mehr in Euro oder Dollar bezahlen zu lassen.

Unter dem Druck dieses Schritts und im Zuge der Sanktionen verringerte sich der Export im vergangenen Jahr laut Gazprom um fast die Hälfte (45,5 Prozent) auf 100,9 Milliarden Kubikmeter. Laut Energieexperten könnte der Export in diesem Jahr noch einmal um 50 Prozent fallen. Analysten erwarten Einnahmen von im Schnitt nur noch 1,4 Milliarden US-Dollar aus dem Erdgasexport pro Monat – das ist ein Minus von 60 Prozent im Vergleich zum jährlichen Durchschnitt.

Großhandelspreise gesunken

Und wie ist die Situation in Deutschland? „Die Gasflüsse nach Deutschland sind stabil und ausgeglichen“, stellt die Bundesnetzagentur fest, die den Betrieb des Pipelinesystems beaufsichtigt. Vor allem aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden fließe Gas nach Deutschland, heißt es. Hinzu kommen kleinere Mengen, die über drei neue LNG-Terminals in Nord- und Ostsee angelandet werden. Dort wird LNG verflüssigt und in das Pipeline-Netz eingespeist. Weitere LNG-Stationen sollen folgen; darunter ist auch die heftig umstrittene Station bei Binz auf Rügen. Das verflüssigte Erdgas kommt zum Beispiel aus den USA.

Die Großhandelspreise für Erdgas sind in der Zwischenzeit deutlich gesunken, in der Folge geben viele Versorger die niedrigeren Einkaufspreise auch an Endkunden weiter. Die Speicher in Deutschland sind mehrere Wochen vor Beginn der Heizperiode zu 94 Prozent gefüllt, Tendenz steigend. Entwarnung geben mögen Energieexperten gleichwohl nicht: Ein harter Winter könnte die Speicher schnell leeren. „Deswegen bleibt auch ein sparsamer Gasverbrauch wichtig“, heißt es bei der Bundesnetzagentur.

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