Radfahren Schärfere Vorgaben für Fahrradbremsen kommen nun doch nicht

Scheibenbremsen, etwa beim Mountainbike, greifen hart zu. Wer nicht richtig dosiert, fliegt.
Scheibenbremsen, etwa beim Mountainbike, greifen hart zu. Wer nicht richtig dosiert, fliegt.

Sozusagen in letzter Minute ist das Bundesverkehrsministerium vom Vorhaben abgerückt, für Bremsen an neuen Fahrrädern schärfere Vorgaben zu machen. Es wäre wohl ein nationaler Alleingang in der EU geworden. Die Zweiradindustrie ist erleichtert. Techniker verweisen darauf: Eine stärkere Bremsleistung bedeutet nicht automatisch mehr Sicherheit.

Voller Elan nimmt Peter M. auf seinem Tourenrad nach einem steilen Anstieg die Abfahrt auf dem kurvigen Sträßchen in Angriff. Doch was ist das da vorn? Peter M. betätigt schnell die Bremshebel – und zack! überschlägt er sich. Mit dem Kopf voraus rauscht er über den Lenker ...

So etwas passiert heute immer wieder einmal. Doch in Zukunft, so befürchteten Interessensvertreter der Fahrradbranche bis vor Kurzem, hätte sich diese Art von Unfall viel häufiger zutragen können. Dann nämlich, wenn das Bundesministerium für Digitales und Verkehr seine Pläne umgesetzt hätte, die gesetzlichen Anforderungen an Fahrradbremsen zu verschärfen. Geschehen sollte dies bei einer anstehenden Novelle der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO).

Tim Salatzki ist der Leiter Technik und Normung im Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). Er macht sich für die Interessen der Radindustrie in allen deutschen Normenausschüssen stark, die sich mit dem Thema Fahrrad auseinandersetzen. Außerdem ist er involviert in gesetzgeberische Aktivitäten auf deutscher und europäischer Ebene.

Nicht nur ein bisschen

Salatzki erinnert sich: Vom Ministerium, das der Leitung von Volker Wissing (FDP) untersteht, sei man informiert worden, dass die StVZO grundlegend überarbeitet werden solle. Im August/September 2023 sei den entsprechenden Verbänden ein erster Entwurf der Novelle zugegangen und sie seien, wie üblich, um Stellungnahmen gebeten worden.

In diesem ersten Entwurf, sagt Salatzki, seien keine allzu großen Veränderungen für Fahrräder enthalten gewesen. Allenfalls ein paar Änderungen zur Beleuchtung oder zu Blinkern. „Später indes haben wir erfahren, dass doch ein paar größere technische Veränderungen in der neuen StVZO enthalten sein sollten. Unter anderem bei Bremsanforderungen für Fahrräder.“

Plötzlich neue Werte

Diese sollten heraufgesetzt werden. Und dies nicht nur ein bisschen. „In der aktuellen StVZO haben wir keine spezifischen Anforderungen an Bremsen“, erklärt Salatzki. Es gebe nur einen Verweis auf geltende technische Regelwerke, also beispielsweise Normen. Nun jedoch sei plötzlich die Rede davon gewesen, künftig für alle Fahrräder eine Mindestbremsverzögerung vorzuschreiben.

Im Raum stand ein Wert von 5 Metern pro Sekunde im Quadrat: 5m/s2. Dieser Wert, so Salatzki, sollte für alles gelten, was als Fahrrad bezeichnet wird – also auch für Elektrofahrräder oder Lastenfahrräder.

Doch was verbirgt sich hinter diesem Wert? ZIV-Technikchef Salatzki betont: In den Normen, auf die in der gültigen StVZO verwiesen wird, und die über Jahrzehnte immer wieder angesichts des technischen Fortschritts überarbeitet wurden, seien ebenfalls Mindestanforderungen an Bremsen definiert. So sei darin verankert, dass Bremsen von Touren- und Trekkingrädern eine Bremsverzögerungsleistung von 3,4 m/s 2 erreichen müssten, Mountainbikes und Rennräder für den Verkauf auf dem europäischen Markt mindestens 4 m/s 2 . Die Radhersteller hätten sich also nicht „im luftleeren Raum“ bewegt, was die Bremsleistungen angeht. In der Realität bedeutet das: Bei einer Vollbremsung aus einer Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern heraus muss das Rad nach sechs beziehungsweise sieben Metern stehen. Nach den neuen Plänen wären es so um die fünf Meter gewesen.

Einfache Gleichung stimmt nicht

Doch Salatzki, aber auch andere Fahrrad- und Unfallexperten, begannen sich gegen die einfache Gleichung „Mehr Bremskraft – mehr Sicherheit“ zu stellen. Sie warnten: Schon jetzt bremsen viele, vor allem ungeübte Fahrer, falsch. Zu viel mit der Vorderradbremse – und dann überschlagen sie sich. Oder zu wenig mit der Vorderradbremse – eben aus der Angst heraus, sich zu überschlagen.

Doch mit dem Fokus auf die Hinterradbremse wird der Bremsweg eines Fahrrades um ein Vielfaches länger. Dahinter steckt einfache Physik: Beim Bremsen „rutscht“ das Gewicht des Gesamtsystems Fahrrad, also Fahrer plus Drahtesel, nach vorn (in die Bewegungsrichtung). Auf dem Hinterrad lastet kaum mehr Gewicht, also kann die Bremse dort nicht mehr viel Leistung erbringen.

Noch schärfere Bremsen, so das Argument von Salatzki und Kollegen, würden daher im Zweifelsfall die Sicherheit für Radfahrer in Deutschland gar nicht verbessern. Eventuell würde sogar das Gegenteil erreicht, weil Radler den kraftvollen Einsatz „giftiger Bremsen“ vermieden.

Keine Evidenz gefunden

Die Argumente der Fahrradtechniker haben in Berlin offenbar Gehör gefunden. Auf Anfrage teilte eine Pressesprecherin des Bundesverkehrsministeriums der RHEINPFALZ mit, dass die diskutierten nationalen Anpassungen der Bauvorschriften für Fahrräder „nicht weiterverfolgt“ würden. Zugleich betonte sie, dass die ursprünglich angedachten Anpassungen „auf den Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen“ basierten. Die dortigen Mitarbeiter hätten „auf der Grundlage von wissenschaftlichen Untersuchungen unter anderem die Anforderungen an Fahrradbremsen um eindeutige Vorgaben für eine Mindestverzögerung ergänzt“.

ZIV-Technikchef Salatzki wiederum hebt im RHEINPFALZ-Gespräch hervor: „Es gibt mit Blick auf die Unfalldaten keinerlei Evidenz, dass Unfälle mit Radfahrern durch ein besseres Bremsvermögen ihrer Gefährte hätten verhindert werden können. Es lässt sich kein dringender Handlungsbedarf ableiten, weil derzeit verkaufte Bremsen zu schwach wären.“ Dies, so Salatzki, hätten ihm auch Unfallgutachter, die Expertisen für Gerichte anfertigten, bestätigt.

Vielleicht gaben aber auch weniger technische, als vielmehr politisch-bürokratische Gründe den Ausschlag für das Ministerium, seine Pläne zurückzuziehen. Zumindest vorerst jedenfalls, denn die Ministeriumssprecherin betont: „Wir werden die Entwicklungen auf dem Markt aber auch im Straßenverkehr verfolgen und gegebenenfalls erneut bewerten. An den inhaltlichen Punkten halten wir als Empfehlungen weiterhin fest.“

Nationaler Alleingang

Das Ad-acta-Legen könnte auch damit zu tun haben, dass es der Ministeriumsspitze irgendwann aufging, dass Deutschland dabei war, hier einen nationalen Alleingang auf dem europäischen Binnenmarkt hinzulegen. Straßenverkehrsordnungen oder Straßenzulassungsverordnungen sind in der EU immer noch Ländersache. Jedes Land kann zum Beispiel selbst entscheiden, welche Fahrzeuge auf Radwegen fahren dürfen. „Beim Thema Bremsen bewegt man sich in einer rechtlichen Grauzone“, weiß Tim Salatzki, der ja auch auf europäischer Ebene mitmischt. Hätte das Ministerium das Vorhaben umgesetzt, wären ausländische Firmen unter Umständen gezwungen gewesen, für den Verkauf auf dem deutschen Markt andere Bremsen zu montieren als für den französischen oder italienischen.

Entwicklungen aus dem Motorradbereich

Beim ZIV jedenfalls hätte man früher gerne gewusst, dass das Thema „Verschärfung der Anforderungen für Fahrradbremsen“ vom Ministeriumstisch (vorerst) verschwunden ist. Doch erst am Donnerstag, nach der Ministeriumsanfrage der RHEINPFALZ, erhielt der Verband davon offiziell Kunde.

Derweil geht die technische Entwicklung auch bei Fahrradbremsen weiter. In hochpreisigen Elektrorädern kommt bereits das aus dem Auto- und Motorradbereich bekannte Antiblockiersystem ABS zum Einsatz. Und aus dem Motorradbereich drängt die (oft mechanische) Verbundbremse in den Radbereich, bei der durch Betätigung nur eines Hebels die Bremskraft auf Vorder- und Hinterräder verteilt wird.

In beiden Fällen müssen die Ingenieure jedoch eine weitere radspezifische Besonderheit im Auge behalten: Das Ganze darf nicht schwer sein.

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