Wirtschaft Verliert Deutschland seine Industrie?

Ein hoher Beschäftigungsstand ist kein sicherer Indikator mehr dafür, dass es der Industrie gut geht. Ein Arbeiter schweißt Masc
Ein hoher Beschäftigungsstand ist kein sicherer Indikator mehr dafür, dass es der Industrie gut geht. Ein Arbeiter schweißt Maschinenteile zusammen.

Die deutsche Wirtschaft sieht die zunehmende Gefahr einer schleichenden Deindustrialisierung in Deutschland – mit möglichen Folgen für viele Jobs. Aber es gibt Widerspruch.

Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte in Berlin, der Standort Deutschland habe zahlreiche „Handicaps“ und verliere an Wettbewerbsfähigkeit. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Peter Adrian, warnte vor einer zunehmenden Verlagerung von Produktion ins Ausland. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, allerdings widerspricht dem vehement: Hier werde ein Popanz aufgebaut.

DGB-Chefin Yasmin Fahimi kündigte an, die Gewerkschaften würden die Fragen, wie wettbewerbsfähige Industrie-Strompreise sichergestellt werden könnten, im nächsten Jahr ganz vorne auf die Tagesordnung in den Gesprächen mit der Bundesregierung setzen. „Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein.“

Fratzscher indes sagte in einem Interview der „Augsburger Allgemeinen“: Die Deindustrialisierung sei „letztlich ein Schreckgespenst, das aufgebaut wird, um der Politik Geld aus den Rippen zu leiern“. Es gebe sicher ein Risiko, dass manche energieintensive Unternehmen pleitegehen oder abwanderten. Aber das wäre wahrscheinlich auch ohne Energiepreis-Schock unvermeidbar gewesen, sagte der DIW-Chef. Deutschland habe bisher noch nie einen Kostenvorteil bei Energie gehabt. „Ich bin sehr optimistisch, dass unsere Industrie diesen Schock gut wegstecken kann. Und dass die notwendige Transformation hin zu erneuerbaren Energien, neuen Technologien, und grünem Wasserstoff jetzt eher beschleunigt wird“, so Fratzscher. Wenn die BASF chemische Grundstoffe nun billiger in den USA herstelle, sei das insgesamt für das Unternehmen besser und damit auch für die deutsche Wirtschaft.

Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, hingegen hatte eine rundum neu entwickelte Industriepolitik für Deutschland und Europa verlangt. Nur so ließen sich die nötigen Anreize für ökologisch tragfähige Investitionen sowie den Erhalt von Arbeitsplätzen schaffen – und weitere Abwanderungen etwa nach China oder in die USA verhindern.

„Jahr der Industriepolitik“

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte eine aktivere Industriepolitik Deutschlands und der EU angekündigt. Er sagte Ende November auf einer Industriekonferenz, das nächste Jahr stehe im Zeichen der Industriepolitik. Ziel sei es, die Standortsicherheit auszubauen und den grundlegenden Wandel hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft voranzutreiben.

Hintergrund ist auch das US-Inflationsbekämpfungsgesetz, das milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz vorsieht. Subventionen und Steuergutschriften sind daran geknüpft, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den USA produzieren. Daran gibt es viel Kritik in Europa, wo man Nachteile für heimische Unternehmen befürchtet.

DIHK-Präsident Adrian sagte: „In Amerika betragen die Strompreise ein Fünftel dessen, was wir jetzt hier in Deutschland aufbringen. Beim Gas ist es derzeit ein Siebtel.“ Eine Abwanderung von Industrieproduktion ins Ausland sei ein schleichender Prozess. „Wir werden einen Strukturwandel unserer Wirtschaft erfahren.“

Deutschland und die EU müssten bürokratische Hemmnisse beseitigen und Planungsverfahren beschleunigen, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). „Das ist in anderen Ländern wesentlich einfacher und unkomplizierter, weil sie ziel- und lösungsorientiert arbeiten – während bei uns Unternehmen häufig die Erfahrung machen, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden.“ Das sei für Deutschland ein großes Ansiedlungshemmnis.

„Wir sind viel zu langsam“

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Russwurm sagte: „Wir sind viel zu langsam, Stichwort Genehmigungspraxis. Die Unternehmensteuern sind im internationalen Vergleich zu hoch.“ Es brauche mehr steuerliche Anreize für Investitionen in Deutschland. „Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben. Das können wir uns nicht mehr leisten im globalen Wettbewerb. Die Bundesregierung sollte ein umfassendes Bürokratieentlastungsgesetz umsetzen.

Die Produktionsrückgänge in den energieintensiven Industrien in diesem Jahr seien ein Risiko für wichtige Wertschöpfungsketten, sagte der BDI-Präsident. „Die Standortbedingungen für diese Branchen haben sich durch den Krieg und die Lage an den Energiemärkten dauerhaft verschlechtert. Aber uns sind die Instrumente abhandengekommen, diese Verschlechterung frühzeitig zu erkennen: Wir haben viele Jahrzehnte gelernt, dass die Arbeitslosenquote ein guter Indikator ist, wie es unserer Wirtschaft geht. Und plötzlich gilt diese Regel nicht mehr, weil wir mehr als 400.000 Arbeitskräfte netto jedes Jahr verlieren“, so Russwurm. „Aus vielen offenen Stellen und hoher Beschäftigung den Schluss zu ziehen, der Industrie und dem Land gehe es gut, ist eine gefährliche Fehleinschätzung.“

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