Kultur Über allem steht die Klage

Die Produktion verbindet auf faszinierende Weise Alte und Neue Musik. Szene mit Jacob Lawrence, Anastasia Terranova, Kai Wessel
Die Produktion verbindet auf faszinierende Weise Alte und Neue Musik. Szene mit Jacob Lawrence, Anastasia Terranova, Kai Wessel (von links).

20 Jahre nach ihrer Uraufführung im Rahmen der Schwetzinger Festspiele ist Salvatore Sciarrinos Kammeroper „Luci mie traditrici“ (damals unter den Titel „Die tödliche Blume“) als Gastspiel ins Rokokotheater zurückgekehrt, diesmal in einer dramaturgisch geschickten Verbindung mit der „Orfeo“-Version von Claudio Monteverdi.

Diese Produktion mit dem Titel „Lamento“ hatte im Oktober letzten Jahres Premiere im Gare du Nord, dem Bahnhof für Neue Musik in Basel. Die Kooperation mit der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Musik-Akademie Basel brachte unter anderem eine staunenswerte Erkenntnis, nämlich dass alt und modern eigentlich das Gleiche sind. Was Vernunft, was Mäßigung! Wenn Liebesraserei, Machtbesessenheit und Größenwahn losgelassen sind, gehen zweitausend Jahre europäischer Zivilisation glatt zum Teufel. Das war bei Monteverdi so und ist vierhundert Jahre später bei der postmodern preziösen Kammeroper von Salvatore Sciarrino nicht anders. Menschliche Schwäche zieht eine blutige Spur durch die Geschichte(n). Der überforderte Held wird zum Täter, der am Ende vor den Trümmern seiner Existenz steht. Was bleibt ist die große Klage, das Lamento in das das Mitleid mit dem Opfer und das Mitleid mit sich selbst zusammenfließen. „Badet mich in Blut. Lebt wohl, ich werde auf ewig in Qualen leben“, singt Sciarrinos Graf Malatesta, nachdem er die untreue Ehefrau im Blutrausch ermordet hat. Der mythische Sänger Orpheus (tadellos: Jacob Lawrence, mit Blindenbrille und -stock) kann mit seinem Gesang zwar die Unterwelt zum Mitleid bringen, scheitert aber, als er das Verbot missachtet, sich nach der ihm zurück ins Leben folgenden Eurydike umzusehen. „Orfeo besiegte die Hölle und wurde dann von seiner Leidenschaft besiegt“, kommentiert der von den Orchestern mitgesungene Chor der Geister: „Ewigen Ruhm aber verdient nur, wer sich selbst besiegt“. Es sind, so Regisseurin Désirée Meister, selbstverschuldete Katastrophen. Die künstlerische Leiterin des Gare du Nord inszeniert eine Männergeschichte, in der die beteiligten hilf- und chancenlos bleiben. Der dem gattenmörderischen Madrigalkomponisten Carlo Gesualdo nachempfundene Malatesta steckt in einer „geheimnisvollen Liebesfalle ohne Auswege“: Er muss töten, weil er zu sehr liebt. Dass er es ist, der in Orfeos großem Lamento das Echo gibt, gehört zu den vielen eindrucksvollen Szenen der Inszenierung. Eine Rahmenhandlung verklammert die Verschmelzung von alter und zeitgenössischer Musik. Aus Monteverdis „Musica“, hier gesungen von Ulrike Hofbauer, wird eine Gesangslehrerin, die sechs Studenten auf einen von emotionalen Extremen bestimmten musikalischen Weg schickt, der immer mehr einem Initiationsritus gleicht, den keiner der jungen Sänger (alle vorzüglich) Ende unverändert verlässt. Ihr zur Seite in verschiedenen Rollen der exzellente Countertenor Kai Wessel, der schon bei der Schwetzinger Sciarrino-Uraufführung als Bote mit dabei war. Beherrscht wird die Bühne (Caroline Crobben, die auch die schlichten Kostüme entwarf) von einem großen Bilderrahmen, der auch ein blinder Spiegel sein kann. Auf der linken Seite sitzt das von Jürg Henneberger geleitete Ensemble Diagonal der Hochschule für Musik Basel, das sich mit schöner Präzision der diffizilen Sciarrino-Partitur widmet, rechts sorgt das Ensemble ad astra unter dem Alte-Musik-Spezialisten Giorgio Paronuzzi auf historischen Instrumenten für den rechten, nuanciert-affektreichen Monteverdi-Klang. Dass beide Orchester beim Höllengang Orfeos zusammenspielen, beschert dem mit auf der Bühne sitzenden Publikum einen unerwarteten großen Moment. Wozu auch die Video-Einspielung aus einem Interview des Atom-Physikers Robert Oppenheimer gehört „Now I am the destroyer of the worlds“, sagt er einen indischen Gott zitierend mit den Tränen kämpfend: „It`s a mens world“. Das Schlusswort freilich hatte Sciarrino mit einem eigens für Basel komponierten, auf einen Hegel-Text zurückgehenden Epilog, „Distendi la fronte“ (Entspanne die Stirn).

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