Pop Chappell Roan: Wie fünf Tüten Brausepulver

Newcomerin des jahres: Chappell Roan.
Newcomerin des jahres: Chappell Roan.

Vor wenigen Monaten noch war die Sängerin aus den ländlichen USA bloß ein Insidertipp. Jetzt gilt Chappell Roan als die größte Popentdeckung des Jahres. Wer ist diese Frau und was macht sie für Musik?

Wer einen schönen Wanderurlaub machen möchte, ist in den Ozarks richtig. Die Mittelgebirgskette im Mittleren Westen, gelegen in Missouri und Teilen von Oklahoma und Arkansas, gilt als absoluter Outdoortraum. Hier liegt das 6000-Leute-Örtchen Willard, Missouri. Doch wenn du als Mädchen hier groß wirst, im „Bible Belt“ und umzingelt von Donald-Trump-Anhängern, wenn dir christlicher Fundamentalismus so rein gar nicht behagt und, ach ja, du mehr auf Frauen als auf Männer stehst, wirst du das Leben hier vermutlich weniger idyllisch finden. „Ich habe meine Heimat gehasst“, sagt Kayleigh Rose Amstutz, die sich als Hommage an den Opa den Künstlernamen Chappell Roan zugelegt hat und die Pop-Neuentdeckung des Jahres ist.

Geboren 1998, wächst sie als ältestes von vier Kindern einer Tierärztin und eines Intensivpflegers auf, wird drei Mal die Woche zum Kirchgang verdonnert und träumt früh von Flucht. „Meine Eltern meinten es an sich gut, und heute sind sie eine absolute Stütze für mich, aber mir war klar: Ich muss hier raus.“ An sich durchaus eine Liebhaberin der heimatlichen Natur, verkriecht sie sich im Zimmer, versteckt sich ihr Interesse an Mädchen, lernt Klavier und Songschreiben, und lädt mit 14 ihr erstes eigenes Stück auf Youtube hoch: „Die Young“ ist ein bisschen von Lana Del Rey abgekupfert. „In meiner Jugend habe ich mich sehr einsam gefühlt“, sagt sie.

Ihr Debüt feiert ihre Identität abseits des Mainstreams

Mit 20 geht Kayleigh Rose Amstutz, die sich nun Chappell Roan nennt, nach Los Angeles. Sie unterschreibt einen Plattenvertrag, aber die Sache versandet nach ein paar erfolglosen Songs. Pandemie ist auch noch, Chappell Roan kehrt ernüchtert zurück nach Missouri, lernt endgültig die dortige Natur lieben, und will es trotzdem noch einmal versuchen. Zurück in LA arbeitet sie in einem Doughnut-Laden und trifft Produzent und Songschreiber Daniel Nigro, der bereits erfolgreich für die Kollegin Olivia Rodrigo tätig ist.

Zusammen erschaffen sie Roans, an autobiografischen Erlebnissen sattes, Debütalbum „The Rise And Fall Of A Midwest Princess“. In diesen 14 Songs findet und feiert Roan, inzwischen offen lesbisch lebend, ihre Identität. Freimütig singt sie jetzt über das erste Verliebtsein in eine Frau („Naked In Manhattan“), und im hymnischen „Femininomenon“ geht es gar darum, dass es Frauen anderen Frauen besser besorgen können als Männer. Auch kreiert Chappell Roan einen an Dragqueens, Burlesque-Tänzerinnen und das weibliche Personal in Tim-Burton-Filmen erinnernden Look mit rotem, sehr wallendem und lockigem Haar, einem blassbleich geschminkten Gesicht und dick geschminkten Augen.

Die Songs knallen

Und die Musik? Charismatisch und sinnlich, klanglich wie eine Riesentüte voll mit den buntesten Bonbons, dazu noch fünf Tütchen mit Brausepulver obendrauf gekippt. Macht superviel Spaß und ein bisschen kirre. Die Songs knallen, sie sind sehr poppig, sehr schnell, sehr dynamisch, großzügig kommt der Synthesizer zum Einsatz. „How To Go!“ erinnert an eine Mischung aus Neuer Deutscher Welle und Cyndi Lauper, als Vorbilder dienen auch Miley Cyrus, Madonna, Ellie Goulding, Lady Gaga, Stevie Nicks und die frühe Katy Perry.

Anfangs stellt sich der Erfolg von „The Rise And Fall Of A Midwest Princess“, veröffentlicht 2023, schleppend ein. Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Chappell Roan begeistert in den TV-Spätabendshows von Stephen Colbert und Jimmy Fallon oder beim Lollapalooza-Festival. Bei den Video Music Awards von MTV tritt sie in Ritterrüstung auf und schießt mit einem brennenden Pfeil. Auch einen ganz neuen Song gibt es nun, „Good Luck, Babe!“ ist ihr bislang bester und erinnert an Kate Bush. Sie hat sich zum begehrtesten neuen Popstar der Welt gemausert – ohne an Innovationskraft und Nonkonformismus einzubüßen.

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