Kultur Dichtung und Wahrheit
Mit dem Australier Barrie Kosky hat am Dienstagabend erstmals ein jüdischer Regisseur bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen inszeniert. Das Publikum auf dem Grünen Hügel bejubelte bis auf wenige Buhs die Lesart des Regisseurs, die Wagners einzige komische Oper als Traumvorstellung beziehungsweise als Kunstvision des Bayreuther Meisters versteht. Auf NS-Symbolik in dieser wohl am meisten vorbelasteten Oper Wagners – sie war nicht nur das Lieblingswerk Adolf Hitlers, sondern wurde immer wieder auch für NS-Parteiaufmärsche missbraucht – verzichtete die Regie.
„Dichtung und Wahrheit“ heißt die Autobiografie von Goethe. Wagner beschränkte sich schlicht auf „Mein Leben“. Unterambitioniert war er deshalb nicht. Immer wieder verschränken sich Leben und Kunst, wird das Leben gleichsam nachfrisiert, um es mit der Kunst kompatibel zu machen. Barrie Kosky, der vor den so schlecht beleumundeten „Meistersingern“, dieser auch im schlimmsten Sinne des Wortes „deutschesten aller deutschen Opern“ (wiewohl das ja auch Webers „Freischütz“ sein soll) regelrecht Angst hatte, wie er auf der Pressekonferenz vor der Premiere betonte, geht dem ganzen Rezeptions-Ballast aus dem Weg. Er verlegt die Oper gleichsam in die Psyche, in die Wahn- und Fantasiewelt Wagners. Mit uns als Deutschen will er da gar nichts zu tun haben. Die Bühne von Rebecca Hingst zeigt im ersten Aufzug Richard Wagners Bayreuther Domizil Haus Wahnfried. Wir schreiben das Jahr 1875, verrät die Regie in einem Vorspann auf dem Vorhang. Es ist der 13. August, 12:45 Uhr. Draußen hat es 23 Grad (in Bayreuth ist es gerade deutlich kälter und bestimmt auch regnerischer). Richard kommt mit seinen beiden Hunden vom Spaziergang zurück, Cosima Wagner hat Kopfschmerzen. Franz Liszt, Wagners Schwiegervater, wird erwartet, auch der jüdische Dirigent Hermann Levi, den Wagner deutlich schlechter behandelt als seine Hunde. Es ist eine eher kleinbürgerliche Idylle, die den Meister mit seinem Fetisch für Seidenwäsche und teure Parfüms durchaus auch mal der Lächerlichkeit preisgibt. Doch so langsam ergreift die Kunst, ergreift die Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ Besitz von den Protagonisten. Aus Franz Liszt wird Veit Pogner, aus Cosima dessen Tochter Eva, die am Ende, wenn alles gut wird, den geliebten Walter von Stolzing bekommt, der wiederum zunächst aussieht wie der junge Richard Wagner, während Hans Sachs selbst dessen gealtertes Alter Ego darstellt. Hermann Levi schließlich verwandelt sich in Sixtus Beckmesser, die vielleicht böswilligste Karikatur eines Menschen, nicht nur eines Juden, die Wagner je erschaffen hat. Wagner, also Sachs, oder eben umgekehrt, gibt den Arrangeur. Den Puppenspieler – an den Fäden die Marionetten, die seine Mitmenschen sind. Nun beginnt ein Spiel auf drei Zeitebenen, die allerdings nebeneinander herlaufen, nie wirklich und schlüssig zusammengeführt werden: der Renaissance oder Dürer-Zeit (alle Meistersinger tragen die typische Dürer-Frisur), der Wagner-Zeit und der Nachkriegszeit. Gegen Ende des ersten Aufzugs verwandelt sich die Bühne und zeigt von nun an den Gerichtssaal, in dem 1945 die Prozesse gegen die deutschen Kriegsverbrecher stattfanden. Warum diese letzte Zeitebene eingebaut wird, erschließt sich allerdings nicht. Die Kulissen des von Schuld überladenen Nürnbergs stehen da halt so rum. Immer stärker aber werden die Traumvisionen Wagners zur Bühnenrealität. Mit furchtbaren Konsequenzen. Sie werden zum Alptraum. Sein Versuch, Beckmesser im zweiten Aufzug bloßzustellen, endet fast in einem Lynchmord an diesem in der berühmten Prügelfuge. Ein riesiger Kopf zeigt die hässliche Fratze aller antisemitischen Vorurteile: die Darstellung eines Juden, wie sie auch im berüchtigten „Stürmer“ in NS-Zeiten gezeigt wurde. Doch Hans Sachs bereut zutiefst. In seinem Wahnmonolog zu Beginn des dritten Aufzugs wird ihm klar, was er angerichtet hat. Ein darstellerisch wie sängerisch herausragender Michael Volle brüllt aus sich heraus seine ganze Verzweiflung: „Gott weiß, wie das geschah.“ Barrie Kosky hofft also zumindest auf so etwas wie ein schlechtes Gewissen nicht nur bei Sachs, sondern eben bei Wagner, der selbst sämtliche antisemitischen Vorurteile gepflegt hat. Auf der Bühne hat die „Meistersinger“-Welt die Wagner-Realität vollends verdrängt. Alle bis auf Sachs tragen altertümliche Kostüme. Der totale Triumph der Kunst über das Leben also? Nicht ganz. Zunächst singt Klaus Florian Vogt in der Rolle des Walter von Stolzing sein Preislied nun wiederum als jüngerer Doppelgänger von Sachs. Er bekommt, was dieser nicht haben darf: die Hand Evas. Dann verlässt der ganze Chor die Bühne, die Requisiten werden hinausgeschoben. Die Opernwelt verschwindet wieder. Und ungelöst bleibt die Frage, was nun eigentlich mit Beckmesser, dem völlig traumatisierten, physisch wie psychisch versehrten Außenseiter dieser grausamen Nürnberg-Gesellschaft wird. Er wird einfach abgeführt, entsorgt. Ausgeschlossen. Und die Regie lässt uns mit dem tradierten „Meistersinger“-Problem ziemlich alleine. Zurück bleibt Hans Sachs am Rednerpult. Als der politische Agitator Richard Wagner. Es folgt jene berüchtigte Passage über die Überlegenheit der deutschen Meister gegenüber allem „Welschen“. Michael Volle singt sich als Sachs in Rage. Bis dann der Schlusschor in Gestalt eines Opernorchesters wieder auf die Bühne gefahren wird. Nun ist die Zeitreise in der Theaterwelt angekommen. Und damit, nicht nur über den Umweg der zitierten Architektur der Nürnberger Prozesse, auch bei uns. Damit müssen wir ohne Hilfe der Regie klarkommen. Der Abend wird von zwei exzellenten Sängerdarstellern geprägt: neben dem erwähnten Michael Volle als Sachs ist dies noch Johannes Martin Kränzle als Beckmesser. Klaus Florian Vogt singt den Stolzing gewohnt wunderschön lyrisch gefärbt. Nicht ganz Festspielniveau erreicht Anne Schwanewilms, die als Eva einfach zu viele intonatorische Ungenauigkeiten zu verzeichnen hatte. Überzeugend zudem noch Günter Groissböck als Pogner, Daniel Behle als David und Daniel Schmutzhard als Fritz Kothner. Nicht zu vergessen Wiebke Lehmkuhl als Magdalene. Die vereinzelten Buhs für Philippe Jordan am Pult des Festspielorchesters bleiben dagegen ein Rätsel. Ein großes. Endlich einmal hat man die „Meistersinger“ ohne alle bombastische Emphase, ohne hohles Pathos, ohne alle Reichsparteitags-Assoziationen hören können. Durchsichtig im Klang, federnd und weitgehend in einem Komödienton. Ganz so, wie es sich Wagner ja auch erträumt hatte. Ein guter Traum. Dieses Mal.