Kultur Sehnsucht nach einer Welt, die mit sich im Einklang ist

Kein Mann der Moderne: Gioacchino Rossini um 1867.
Kein Mann der Moderne: Gioacchino Rossini um 1867.

Mit seinem Geburtstag an einem 29. Februar hat Gioacchino Rossini hinsichtlich späterer Jubiläen kein besonders glückliches Los gezogen. Doch zu Lebzeiten bedurfte es keiner kalendarischen Anlässe, um ihn zu feiern: Als bestauntes wie misstrauisch beäugtes Fossil vergangener Zeiten behielt der heute vor 150 Jahren gestorbene Komponist, der nach 1829 keine Opern mehr komponierte, seinen Platz im gesellschaftlichen wie musikalischen Leben.

Die Stadt Paris beispielsweise, der er mit dem „Wilhelm Tell“ 1829 seine letzte Bühnenkomposition geschenkt hatte und in der er seine späten Lebensjahre verbrachte, erlebte in den folgenden vier Jahrzehnten bis zu Rossinis Tod 1868 über 500 Aufführungen allein dieser einen Oper. Auf den 1792 geborenen Mann aus Pesaro, schon lange vor seinem Tod mit Plaketten und Denkmälern geehrt, konnten sich fast alle einigen, zumal prägende Persönlichkeiten wie Schumann, Liszt oder Berlioz gerade auf der Opernbühne keine wirklich nachhaltigen Kontrapunkte setzten. Und die neuen Zielsetzungen im Gefolge Richard Wagners und der erwachenden osteuropäischen Nationalbewegungen verblieben, so lautstark auch immer, erst einmal in ihrer pubertären Muskelspiel-Phase. Rossinis Popularität hatte und hat freilich als Kehrseite die bis heute fröhlich weiterlebende Annahme, hier habe einer quasi für den kleinsten gemeinsamen Nenner komponiert. Dem allerdings hat schon Giuseppe Verdi vehement widersprochen: Für einen bloßen Modekünstler hätte er kaum Ideen und Organisationskraft investiert, um, wie zu Ehren Rossinis nach dessen Tod am 13. November 1868, eine gemeinsame Totenmesse mit zwölf weiteren Komponisten der Folge-Generationen anzuregen. Nein, der Alte wurde geliebt: als uneigennütziger Förderer oder zumindest Impulsgeber, wovon zuerst die nur wenig jüngeren, aber früh verstorbenen Kollegen Bellini und Donizetti, aber auch ein Meyerbeer oder Auber, selbst Lortzing profitierten. Den Italienern galt er überdies als Seelenstimme und Resonanzraum ihrer jungen, sich gerade erst konstituierenden Nation. Heinrich Heines erschüttert-begeisterte, ganz ironiefreie Kritik der Uraufführung des „Stabat mater“ 1842 beweist indessen, dass sich die Wirkung dieser ebenso melodienseligen wie rhythmisch brillanten, immer den direkten Weg zum Hörer suchenden Musik keineswegs in ihren gleichsam tagespolitischen Komponenten erschöpfte. Ansonsten steht das Passionsstück dafür, dass Rossinis Abschied von der Opernbühne keineswegs einen von der Musik überhaupt bedeutete – auch wenn nun, nach den Bühnen-Galeerenjahren mit manchmal drei oder vier Opern pro Saison, mehr Gelassenheit (und mit der Kochkunst eine Muse noch ganz anderer Art) in das Leben des Künstlers eingezogen war, das er übrigens, von depressiven Episoden verfolgt und öfter unter schweren Verdauungsstörungen leidend, bei allem äußeren Ruhm kaum unbelastet verbringen konnte. Neben den geistlichen Werken stehen in den späten Jahren besonders die langen Reihen seiner Klavier-Capricci, die der Welt nichts mehr beweisen wollen, sondern nur noch für den Eigengebrauch im Kreis enger Freunde bestimmt waren. Hatte Rossini in seinen jung-dynamischen Jahren mit irrwitzig überdrehten Ensembles und extravaganten gesangstechnischen wie dramaturgischen Herausforderungen die Vergnügungslust wie innere Bodenlosigkeit der Restaurationsjahre und deren – vergebliches – Jagen nach der guten alten Zeit zu Klang werden lassen, so konnte er sich nun auch Selbstironie und Sarkasmus leisten. Doch die nachgerade kindliche Sehnsucht nach einer Welt, die mit sich im Einklang ist, klingt selbst da noch durch, wo er sich über neue Moden lustig macht. Er wusste, dass er nicht mehr in die „modernen Zeiten“ gehörte – aber er machte sich nicht mit ihnen gemein.

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