Literatur Sommererzählreihe „Hoffnungsschimmern“: Bestsellerautor Norman Ohler schreibt

„Wir hatten nun vollen Blick auf die Villa, in der der Holocaust geplant, die Industrialisierung des Mordes besprochen worden wa
"Wir hatten nun vollen Blick auf die Villa, in der der Holocaust geplant, die Industrialisierung des Mordes besprochen worden war.

Sommererzählreihe „Hoffnungsschimmern“ (7): Immer, wenn es Sommer wird, beginnen wir mit dem Erzählen. Die Reihe gibt es schon seit 29 Jahren. Schriftsteller und Journalisten unserer Zeitung schreiben mit. Die Geschichte heute stammt von dem in Zweibrücken geborenen Berliner Bestsellerautor Norman Ohler.

Ich wusste nicht, was Defne in der vergangenen Nacht noch erlebt, ob sie den indischen Besucher getroffen und es geschafft hatte, mit ihm ins Berghain zu kommen, doch als ich am Morgen erwachte, hatte ich Lust, sie zu sehen. Das Wetter war gut, und ich beschloss, den schönen Sonntag für etwas Schönes zu nutzen: Eine Bootstour schwebte mir vor, und ich schickte Defne eine Nachricht.

Sie habe noch kein Auge zugemacht, schrieb sie zurück, und müsse unbedingt Deutsch lernen für ihre morgige Prüfung, doch ich ließ nicht locker und berichtete ihr von dem Liegedeck auf dem Dach des Hausbootes mit dem schönen Namen Rossi. Dort könne sie sich ausruhen und auch büffeln, während ich uns entspannt durch die Gegend gondelte. Kurz entschlossen sagte sie zu, und da sie ohnehin in der Nähe war, nämlich auf der Terrasse des NH-Hotels am Osthafen, wo der indische Tourist sein Zimmer hatte, vereinbarten wir, dass ich sie am Ufer dort abholte.

Sie befand sich wirklich nicht weit entfernt, ich musste lediglich die an dieser Stelle ungefähr 120 Meter breite Spree durchqueren und legte an der Spundwand vor dem Hotel an, wo sie bereits auf mich wartete. Sie strahlte über das ganze Gesicht und wedelte mit fünf zitronengelben Zweihunderterscheinen; offenbar hatte das mit dem Berghain funktioniert.

Defne zog, weil es wirklich sehr warm war, ihre kurze Hose und ihr Top aus und legte sich auf das Sonnendeck, so dass ich vom Steuerstand über sie hinaus schaute auf den Fluss. Linkerhand der furchtbare Neubau des Berliner Schlosses, dieses „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie ein befreundeter Architekt einmal gesagt hat, rechts der Fernsehturm, majestätisch wie eine Spritzennadel, mit der sich Gott hin und wieder einen Schuss setzt, hier in Berlin. „Jeder schaut mich an!“, rief Defne vom Sonnendeck, was mich nicht wunderte, da sie sich wirklich sehr schön sonnte. Für ihre Deutschprüfung zu lernen, schien plötzlich weniger wichtig als sich auf der Rossi zu räkeln, die zwischen immer mehr Menschen hindurchfuhr, die die Ufer links und rechts bevölkerten. Salsa wurde getanzt, Steuerbord (also rechts) gab’s das DDR-Museum, das Defne sogar einmal besucht hatte und „grottenschlecht“ fand. Backbord (also links) hinter dem Alten Museum der Abzweig in den Kupfergraben mit Warnschild: KAMPFMITTEL - NICHT ANKERN! „Vom Zweiten Weltkrieg liegen hier noch Bomben im Wasser“, erklärte ich Defne, die das absurd fand, weil ihrer Meinung nach gefährliches Zeug geräumt gehörte, aber so ist das in Berlin: Die Leichen bleiben genau so lange im Keller, bis sie irgendwann wieder nach oben kommen. Manchmal sogar explodieren.

Gegen Mitternacht, ich war noch wach und las in Döblins „Berlin Alexanderplatz“, wollte Defne, die einen Pyjama mit Pandabärköpfen trug, wissen, ob ich ihr beim Lernen helfen könne: Sie müsse die Körperteile bei der Prüfung kennen und schlug vor, dass sie je auf ein Körperteil zeige, das deutsche Wort nenne, und ich solle überprüfen, ob alles stimme. Sofort legte sie los, sagte „Schlüsselbein“ und zeigte darauf, ich bestätigte, schon ging es weiter: „Schulterblatt … Oberschenkel … Kniekehle … Mittelfuß …“ Sie berührte all diese Körperteile und sah mich dabei gespielt lasziv an, und plötzlich wusste ich, woran mich die Szene erinnerte, nämlich an die Anfangsminuten des Films „Le Mepris“ mit Brigitte Bardot, die Jean Luc Godard erst auf Wunsch seines Produzenten nachdrehte, der für sein Geld eine sexy Bardot sehen wollte. „Nacken …“ Defne senkte ihren Kopf und deutete auf ihren von dunklen Härchen bewachsenen Nacken. „Hüfte … Bauchnabel … Brust …“ Ich bestätigte ihr, dass alles korrekt sei, das ging noch eine Weile so weiter, irgendwann wandte sie sich wieder ihrem Lernbuch zu, und ich schlief, zufrieden von diesem langen Tag, im Heck der Rossi an der Anlegestelle Friedrichstraße recht friedlich ein.

Am nächsten Morgen saß ich auf Deck, während Defne im Bugbett noch schlief, während die Stadt erwachte und mein Blick in Richtung Berliner Ensemble lenkte, das alte Theater von Bertolt Brecht, wo 1929 die Uraufführung der Dreigroschenoper stattgefunden hatte, jener Abgesang auf das Gangstertum des Kapitalismus. Backbord lag nun der Abzweig in den Landwehrkanal, der durch Kreuzberg führt, die Grenze zu Neukölln bildet und schließlich Kreuzberg von Treptow trennt, bevor er zurück in die Spree fließt, einen Halbkreis durch die südliche innere Stadt beschreibend. Nach ihrer Ermordung im Januar 1919 durch Rechtsradikale war Rosa Luxemburg gemeinsam mit Karl Liebknecht in diesen Kanal geworfen worden; fünf Monate später tauchte die Leiche der Revolutionärin wieder auf, trieb zurück an die Oberfläche, wie alles in dieser Stadt. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, sondern nur abgesunken, unterdrückt, dabei stets präsent. Das ist der Mythos Berlin, in dem die Zeiten verschwimmen.

Im Wannsee gingen wir baden, was herrlich war und viel Spaß machte mit Defne. Doch so sehr wir uns im erfrischenden, sauberen Wasser tummelten und umhertauchten, war auch hier die Topografie Berlins eine des Terrors, daran konnten selbst neugierige Schwäne und scheue Fischreiher nichts ändern. Wir kletterten auf die Rossi zurück, die in diesem Wannsee ankerte, und hatten nun vollen Blick auf die Villa, in der der Holocaust geplant, die Industrialisierung des Mordes besprochen worden war.

Eichmann war damals zugegen, auch Himmlers Stellvertreter Heydrich, der ein paar Monate später in Prag von tschechischen Widerstandskämpfern erschossen wurde. Ich erzählte Defne von der Wannsee-Konferenz, die nur 90 Minuten dauerte, aber die Welt für immer veränderte, doch es interessierte sie nicht sonderlich. Sie fand die Enten spannender. „Enten sind die Katzen der Seen“, sagte sie, während ich den Gastliegersteg des Motor-Boot-Clubs Wannsee ansteuerte, wo wir die Batterien der Rossi aufladen würden, sowie – ich machte das zum Pflichtprogramm – die Wannsee-Villa besuchten.

Das genozidale Vorgehen streamlinen, sagte der Museumsführer zu einer Gruppe von Schülerinnen und sprach als nächstes von der Erinnerungskultur. Wir alle standen in dem Raum, in dem das ominöse Treffen, das mit einem Frühstück und dem Tod von Millionen von Juden endete, stattgefunden hatte. Bis in die 70er-Jahre hinein habe es eine solche Erinnerungskultur nicht gegeben in Deutschland; sie sei erst von der Linken erstritten worden - und dieser Tage mit dem Erstarken der Rechten immer mehr unter Beschuss. Es gehe in dieser Villa, so führte er aus, um das Vergessen, das Verdrängen - den Kampf um die richtige Erinnerung. Es sei wichtig für die Deutschen als Nation, sich mit den Verbrechen zu konfrontieren, trotz der schwierigen Gefühle, die dies auslöse, meinte er, während Defne mit wachsender Bestürzung die Schautafeln las: Ausgrenzung, Vertreibung, Vernichtung. Ihre perlende Laune vom See war einer brütenden Dunkelheit gewichen: „Das ist auf jeden Fall ein Mood-Kill“, sagte sie zu mir, und ich bereute für einen Moment unseren Landgang sogar, aber so etwas muss manchmal sein in Berlin: die Erinnerung an die Perversion, die zur Staatsräson geronnen war und sich niemals wiederholen durfte.

„Ich kann Leute verstehen, die Drogen nehmen, auf der Straße leben und früh sterben“, sagte Defne als wir uns danach im Park der Villa auf einer Bank ausruhten, mit Blick über den See und die Rossi auf die andere Uferseite, zum Strandbad Wannsee, wo früher die Parteiabzeichen auf der Badehose getragen wurden. „Das ist eine aktive Wahl: nicht Teil des Systems zu sein. Hier zu leben, das fühlt sich an wie ein Käfig, eine Falle, aus der es kein Entkommen gibt.“ Ich sah sie an und überlegte, wie ich sie aufheitern konnte. „Die Last ist so schwer“, fuhr Defne düster fort: „Was kann ich schon tun?“

„Ich kann immerhin darüber schreiben“, sagte ich, ein wenig hilflos. „Du musst etwas Radikales unternehmen“, entgegnete Defne. „Teil einer Gruppe sein, die die Regierung als terroristische Organisation bezeichnen würde. Es ist der einzige Ausweg, aber dann ist dein Leben gefickt. Du wirst verrückt, obwohl die Welt verrückt ist. Sobald ich diese Scheißprüfung bestehe, meine Approbation erhalte und als Ärztin hier in Deutschland Steuern zahle, unterstütze ich die Kriegsmaschine. Aber das will ich nicht.“

Als wir die in zartem Hellblau angepinselte Stahlkonstruktion der Glienicker Brücke unter einem ebenso zarthellblauen Himmel erreichten, bat mich Defne, sie an Land zu lassen. Sie müsse zur Prüfung. Hier hatten wir die Grenze zwischen Berlin und Potsdam erreicht, früher wurden über diese Brücke Agenten zwischen Ost und West ausgetauscht, jetzt trennte sich Defne schweren Herzens von Bord. Ich bestärkte sie darin, verantwortungsvoll zu sein, auch wenn es mir nicht leicht fiel, da es auf der Rossi mit ihr zusammen natürlich viel mehr Spaß machte als ohne sie. Doch ich würde sie wiedersehen: Das war mein Hoffnungsschimmer an diesem schönen, sommerlichen Nachmittag.

Norman Ohler
Norman Ohler

Zum Autor

Norman Ohler, 1970 in Zweibrücken geboren, ist freier Schriftsteller und lebt in Berlin. Er hat mehrere Romane und Sachbücher publiziert, stand mit „Der totale Rausch“ auf der Bestsellerliste der „New York Times“ und des „Spiegels“ und ist Träger des Pfalzpreises für Literatur. Sein Werk ist in über 30 Sprachen übersetzt. Im September erscheint sein Buch „Zauberberg, die ganze Geschichte“ bei Diogenes.

Bisher erschienen: „Die Schule des Sehens“ von Frank Pommer (am 20. Juli), „Frühe Rätsel“ von Gabriele Weingartner (24. Juli), „Manchmal kommt alles ganz anders“ von Root Leeb (31. Juli), „Ich rede ungern mit meiner Stehlampe“ von Ute-Christine Krupp (3. August), „Klemke begegnen“ von Dieter M. Gräf (10. August) und „Siena so nah“ von Pola Schlipf (14. August)

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